Gesundheitswirtschaft

"Das Gut Gesundheit geht uns alle an"

Was ist das Besondere an der Gesundheitswirtschaft? Setzt der Fachkräftemangel der anhaltenden Wachstumsdynamik Grenzen? Über die Bedeutung der gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung sprach die "Ärzte Zeitung" mit Harald Kuhne, Leiter der Zentralabteilung im Bundeswirtschaftsministerium.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Mit voller Kraft: Die Gesundheitsbranche ist ein Motor der deutschen Wirtschaft.

Mit voller Kraft: Die Gesundheitsbranche ist ein Motor der deutschen Wirtschaft.

© antonmatveev / stock.adobe.com

Ärzte Zeitung: Im Vergleich zu anderen Branchen: Was sind die Besonderheiten der Gesundheitswirtschaft?

Harald Kuhne: Zunächst ist die Gesundheitswirtschaft ein kleines Abbild der gesamten Wirtschaft. Wir haben dort Dienstleistungen, Industrie, Handwerk, Selbstständige und Freiberufler. Das besondere ist das Produkt: Gesundheit – ein "Produkt", das uns alle angeht und das allen anderen Teilen der Wirtschaft auch sehr nützt. Denn wenn wir weniger Kranke haben, haben wir weniger Produktionsausfall. Dieser doppelte Nutzen ist das Besondere.

Und damit Grundlage auch für wachsende Produktivität...

HK: Genau: Wir haben in Deutschland einen Produktionsausfall durch Krankheit von geschätzt 57 Milliarden Euro. Dass diese Belastung nicht weiter steigt, dafür ist die Gesundheitswirtschaft zuständig.

Das Gesundheitswesen gilt als Jobmotor. Aber gibt es genügend Nachwuchspotenzial angesichts des demografischen Wandel?

HK: Eindeutig nicht. Alle Prognosen weisen darauf hin, dass wir spätestens im Jahr 2030 erheblichen Fachkräftemangel in der Gesundheitswirtschaft haben werden. Eine Daumenregel sagt: ungefähr ein Viertel der Arbeitsplätze kann dann nicht besetzt werden. Das gilt für andere Branchen ebenso, weil wir insgesamt eine schrumpfende Bevölkerung haben. Allerdings wird die Nachfrage für die Produkte der Gesundheitswirtschaft steigen, weil wir mehr ältere Menschen haben, die auf medizinische Versorgung Medizin und Pflege angewiesen sind.

Sehen Sie durch Fachkräftemangel Wachstumslimitationen?

HK: Ja, auf jeden Fall. Das kann man jetzt schon beobachten, etwa in der Pflege, wo stationäre Pflegeplätze nicht belegt werden können, weil sie das notwendige Personal nicht finden.

Wie groß schätzen Sie das Arbeitskräftepotenzial durch Migration?

HK: Das lässt sich seriös nicht beziffern. Nach einer Studie war in der Vergangenheit der Anteil von Personen mit Migrationserfahrung in den Pflegeberufen ähnlich hoch wie in der Gesamtwirtschaft. Es waren vor allem Personen aus der ehemaligen Sowjetunion und den östlichen EU-Staaten, welche in den Pflegeberufen eine Arbeit aufnahmen.

Im Durchschnitt waren dies zwischen 2005 und 2009 rund 2000 Arbeitsmigranten pro Jahr. Seit 2011 gilt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für die im Jahr 2004 beigetretenen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten. Große Veränderungen sind nicht feststellbar.

Ich glaube, dass die Pflegekräftelücke langfristig nicht allein durch Arbeitsmigration – was ja eine Anerkennung der im Ausland erworbenen Berufsqualifikation voraussetzt – geschlossen werden kann. Wir sollten auch Migranten gezielt in diesen Berufen in Deutschland ausbilden.

Kann man denn Migration als Chance begreifen?

HK: Muss! Unbedingt. Wenn ich an 2030 denke und daran, dass jede vierte Stelle in Kliniken nicht besetzt ist, dann brauchen wir eine gezielte Einwanderungspolitik etwa nach kanadischem Vorbild, bei der wir uns die Zuwanderer aussuchen, die wir benötigen.

Auffällig in der industriellen Gesundheitswirtschaft ist das Ausmaß an Außenhandel: So ist der Exportwert mit 107 Milliarden Euro höher als die Bruttowertschöpfung. Wie erklärt sich das?

HK: Das betrifft vor allem Medizintechnik und Pharmazie. Dies sind sehr hochwertige und hoch veredelte Produkte, die einen hohen Vorleistungsanteil haben, dadurch steigt der Exportwert im Vergleich zur Bruttowertschöpfung. Je nach Produkt und Branchensegment liegt der Exportanteil übrigens zwischen 60 und 90 Prozent. So überstrahlt der Export die Bruttowertschöpfung.

Ist das nicht auch Folge einer starken internationalen Arbeitsteilung, bei der im Verlauf eines Produktionsprozesses mehrfach nationale Grenzen überschritten werden?

HK: Auch.

Bei diesem hohen Ausmaß an internationaler Arbeitsteilung der industriellen Gesundheitswirtschaft: Welche Folgen kann der Brexit für die Zusammenarbeit von Forschungs- und Produktionsstandorten haben?

HK: Wir haben engen Kontakt etwa mit Medizintechnikfirmen, die auch in England produzieren. Für einige hat der Brexit einen immensen Effekt. Aber wir können die Folgen noch nicht abschätzen.

Es kommt darauf an, wie der Brexit ausgestaltet wird – weich oder hart. Ein harter Brexit mit Zöllen zwischen der EU und Großbritannien hätte fatale Auswirkungen. Aber es ist noch völlig offen, wie sich die Verhandlungen entwickeln.

Ein Blick auf das Generika-Segment zeigt: Der Produktionswert ist seit Jahren mit etwa 2,5 bis 2,6 Milliarden Euro konstant, nicht zuletzt durch einen harten Preis- und Rabattwettbewerb. Wir sehen aber auch Konzentrationsprozesse und Lieferengpässe bei wichtigen Arzneimitteln. Wie bewertet das Bundeswirtschaftsministerium diese Entwicklung?

HK: Konzentrationsprozesse sind – wie in anderen Branchen – auch in der Pharma-Industrie zu beobachten. Lieferengpässe haben wir eigentlich nicht im Generikabereich, sondern in patentgeschützten Segmenten oder dort, wo es weniger Anbieter gibt. Ursache kann sein, dass bestimmte Vorprodukte fehlen. Tatsächlich gibt es eine Konzentration bei der Produktion von Wirkstoffen, was sich weltweit auswirkt.

Zu beobachten ist, dass es für bestimmte Wirkstoffe monopolisierte oder oligopolisierte Produktionsstandorte wie China oder Indien gibt, die störanfällig sind.

HK: Zunächst ist die globale Arbeitsteilung gut, weil wir preisgünstige Angebote erhalten. Zum Problem wird es, wenn sich Oligopole oder gar Monopole bilden. Das ist aber schwierig zu verhindern, weil wir keine weltweite Wirtschaftspolitik haben. Wir sind in Verhandlungen mit China und Indien, auch unter dem Aspekt des Patentschutzes.

Welche Rolle spielt die gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung im Dialog mit anderen Ressorts, speziell mit dem Bundesgesundheitsministerium?

HK: Diese Daten- und Faktensammlung ist die beste in diesem Bereich. Wir sehen dies erst einmal als einen Service auch für andere Ressorts. Der Bundesgesundheitsminister zitiert jedenfalls gern unsere Zahlen. Das war früher anders.

Ferner wird auf der Staatssekretärsebene die Gesundheitswirtschaft regelmäßig in halbjährlichen Treffen zwischen den Ressort für Gesundheit, Bildung und Forschung und Wirtschaft koordiniert.

Mit einem erweiterten Verständnis für Gesundheitspolitik? Über Kostendämpfung hinaus?

HK: Ich glaube, diese Sichtweise konnten wir als Bundeswirtschaftsministerium untermauern. Nicht zuletzt aufgrund der Bedeutung der Gesundheitswirtschaft für die Dynamik und die Beschäftigungswirkung in der Gesamtwirtschaft. Das wurde früher einseitiger gesehen.

Harald Kuhne

» Aktuelle Position: Ministerialdirektor und Leiter der Zentralabteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.

» Ausbildung: Studium der Rechts- und Sozialwissenschaft an der Universität Hannover

» Karriere: Kuhne, Jahrgang 1960, war unter anderem mehrere Jahre im Bundeskanzleramt als Gruppenleiter auch zuständig für den Gesundheits- und Sozialbereich. Er wechselte 2007 ins Bundeswirtschaftsministerium und übernahm 2014 die Zentralabteilung.

Lesen Sie dazu auch: Dauerhaft exportstark: Pharma und Medizintechnik

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