Flüchtlinge in Idomeni

"Die Politik der Staaten macht Menschen krank"

Über 11.000 Flüchtlinge sitzen in Idomeni fest. 150 Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen - darunter auch eine deutsche Ärztin - sind im Camp, um zu helfen. Geschäftsführer Florian Westphal spricht über Probleme vor Ort - und das Versagen Europas.

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Florian Westphal, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen.

Florian Westphal, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen.

© Barbara Sigge

Das Interview führte Jana Kötter

Ärzte Zeitung: Herr Westphal, die Lage am griechisch-mazedonischen Grenzübergang ist dramatisch. Mit welchen Problemen sind die Ärzte im Flüchtlingscamp Idomeni konfrontiert?

Florian Westphal: Die unkontrollierten Grenzschließungen sorgen dafür, dass Menschen tagelang, wochenlang im Schlamm sitzen - ohne zu wissen, was mit ihnen passiert.

Sie leiden unter Atemwegserkrankungen und Problemen, die die mangelnde Hygiene mit sich bringt, vorwiegend Hautkrankheiten. Hinzu kommt die seelische Belastung: Nach der Flucht sitzen sie nun zusammengedrängt und wissen nicht, wie es weitergeht.

Können Ihre Teams die Versorgung vor Ort gewährleisten?

Westphal: Ärzte ohne Grenzen investiert derzeit täglich 50.000 Euro in die humanitäre Hilfe in Idomeni, 150 Mitarbeiter sind mittlerweile vor Ort.

Sehr kurzfristig können wir und die Freiwilligen anderer Nichtregierungsorganisationen es schaffen, grundlegende Hilfe zu leisten. Aber das reicht nicht - das zeigen die aktuellen Bilder ganz deutlich.

In nur vier Tagen haben Ihre Kollegen vergangene Woche über 700 Patienten behandelt, über die Hälfte davon Frauen und Kinder. Wie schätzen Sie deren Lage im Camp ein?

Westphal: Bei Frauen und Kindern liegt ein zusätzlicher Fokus auf dem Sicherheitsgedanken. Kinder - insbesondere wenn sie unbegleitet auf der Flucht sind und damit nicht den Zusammenhalt einer Familie spüren - sind in vielen Situationen schutzlos ausgeliefert.

Wenn es etwa zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt, bekommen sie das Tränengas ebenso ab wie erwachsene Männer. Das ist nicht richtig.

Hinzu kommt, dass die Flüchtlinge, die Hoffnung auf ein Weiterkommen sehen, nicht in Idomeni bleiben werden. Sie machen sich wieder auf den Weg - und gerade Frauen und Kinder laufen dabei Gefahr, sich in die Hände von Schlepperbanden zu begeben. Mit all den Risiken, die solch ein kriminelles Milieu mit sich bringt.

Inwiefern ist Idomeni dabei Sinnbild für die europäische Flüchtlingskrise?

Westphal: Idomeni ist im Positiven wie im Negativen Sinnbild für die Situation in Europa: Viele Bürger und Ärzte beweisen bemerkenswertes Engagement, um Flüchtlingen schnell und unmittelbar zu helfen.

Die Staaten hingegen haben versagt - vor allem in ihrer Verantwortung den Menschen gegenüber, die auf der Flucht sind. Vergangenes Jahr sind 90 Prozent der Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak über Griechenland nach Europa geflohen - aus klar konfliktbetroffenen Ländern also. Statt hier anzusetzen, zielt die EU aber auf das Schließen von Grenzen.

Ein Punkt, der mit der zwischenzeitlich angepeilten "Schließung der Balkanroute" - auch bedeutend in der politischen Diskussion ist …

Westphal: Absolut. Ein weiteres Wort, das in der Diskussion immer wieder fällt, ist die "Grenzsicherung". Aber gegen wen müssen die europäischen Grenzen überhaupt gesichert werden? Gegen Frauen und Kinder? Europa kommt seiner Verantwortung, Schutz zu bieten und den Zugang zu einem Asylverfahren zu ermöglichen, nicht nach.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Nicht jeder muss Asyl bekommen, aber ein Asylverfahren steht nach völkerrechtlichem Standard jedem Flüchtling zu. Doch die Politik der Staaten konzentriert sich aktuell nur auf die Grenzen, die Flüchtlinge - die Menschen - werden zur Nebensache.

Welche Folgen hat diese Grenzsicherung für die Betroffenen?

Westphal: Wer in die EU möchte, der muss dies aktuell auf illegalem Weg tun. Man hat es bisher versäumt, sichere und legale Fluchtwege zur Verfügung zu stellen. Das hat dazu geführt, dass 2015 fast 3800 Menschen ertrunken sind - diese Zahl muss man sich einmal vor Augen führen.

Die Flüchtlinge, die überleben, werden wegen der Strapazen der illegalen Flucht krank. Kurz gesagt: Die Politik der Staaten sorgt aktuell dafür, dass Menschen krank werden.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Diskussion um weitere Grenzschließungen?

Westphal: In Idomeni wird deutlich, was passiert, wenn Grenzen einfach geschlossen werden. Dieser Effekt wird sich in Zukunft wohl noch verstärken: Zehntausende weitere Flüchtlinge sollen sich aktuell irgendwo in Griechenland aufhalten.

Gleichzeitig ist Europa nicht mehr bereit, Asylverfahren nach völkerrechtlichem Standard zu bieten. Da stellt sich durchaus die Frage, welche Werte in der aktuellen politischen Diskussion noch zählen.

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