Ist der Ärztemangel "nur" ein Verteilungsproblem? Wohl kaum: Denn die künftige Versorgungslücke resultiert nicht aus Berufswünschen der Studenten oder der Scheu vor der eigenen Landarztpraxis. Eher muss es bessere Lösungen für berufstätige Eltern geben.

Von Rebecca Beerheide

Der Aufschrei in diesem September war nicht zu überhören: "Dem deutschen Gesundheitswesen gehen die Ärzte aus!" - so der Titel der fünften Arztzahlstudie von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Bundesärztekammer. Tenor: zu viele Studenten brechen das Studium ab, spätestens im Jahr 2020 fehlen 24 000 Hausärzte, deutlich zu viele Ärzte (17 000) wandern ins Ausland ab.

Den negativen Grundtenor könnte man allerdings auch anders interpretieren: Durch den "doppelten demografischen Wandel" - Zitat KBV-Chef Dr. Andreas Köhler - gibt es glänzende Berufsperspektiven für junge Ärzte. Trotz des Unkens der Standesorganisationen ist der Beruf unter Abiturienten extrem attraktiv:

Die Zahl der Interessenten für Studienplätze übersteigen bei weitem das, was die 36 Fakultäten in Deutschland anbieten können. Die Arbeitslosigkeit unter Ärzten lag 2009 bei 0,8 Prozent - so niedrig lag sie noch nie in den vergangenen 17 Jahren.

Krankenkassen sehen keinen Ärztemangel in Deutschland

Gleichzeitig zeigt die Analyse auch deutlich, wie sehr Hausärzte in den kommenden Jahren vor allem in ländlichen Regionen fehlen werden . Richtig neu ist die Erkenntnis nicht, doch in dieser Deutlichkeit bisher nicht in der Politik angekommen.

Auf taube Ohren stößt die Analyse allerdings eindeutig bei Vertretern der Kassen: Der Ärzteschwund sei ein "reines Verteilungsproblem", so der Vorstand des AOK-Bundesverbands, Dr. Herbert Reichelt, in einem Interview: "Ich kann diesen Ärztemangel nicht erkennen. Wir haben ein Problem mit ärztlicher Überversorgung."

Ziel müsse es sein, in Gebieten mit Überversorgung die Zahl der Praxen zu reduzieren. In Regionen wie zum Beispiel Sachsen oder Thüringen, die mit Ärztemangel akut zu kämpfen haben, engagiert sich derweil die AOK Plus bei Stipendienprogrammen und der Nachwuchs-Suche.

Reizthema Studentenschwund

Die Analyse der KBV und BÄK belegt, dass es zwar sehr viele Interessenten für das Medizinstudium gibt, aber am Ende nur ein Teil in der medizinischen Versorgung ankommt. Abwanderung ins Ausland, zu Unternehmensberatungen und in die Pharma-Industrie spielen dabei allerdings kaum eine Rolle, wie aus einer Befragung unter Medizinstudenten hervorgeht .

Dennoch stehen die Medizinstudenten im Fokus der Schwund-Diskussion: Laut Ärztestatistik "verschwinden" im Laufe des Studiums fast 40 Prozent der Studenten - wohin kann die Statistik nicht beantworten. Diese hohen Abbrecherquoten kamen den Medizinfakultäten in Deutschland fast schon spanisch vor - schließlich wird kontinuierlich die große Beliebtheit des Faches festgestellt und beispielsweise durch das Hochschul-Informations-System der Humanmedizin oft die höchsten Studienerfolgsraten bescheinigt.

Nachdem verschiedene Anläufe zur Klärung mit den Ärzteorganisationen gescheitert waren, veranlasste der Medizinische Fakultätentag (MFT) eine Sonderabfrage beim Statistischen Bundesamt - und siehe da, die Abbrecherquoten sehen nach der Neu-Berechnung deutlich freundlicher aus:

Wenn die Zahlen der Studienanfänger mit dem Abschluss-Ziel "Staatsexamen" im Vergleich zu denen gesetzt werden, die letztendlich in einem Jahrgang diesen Abschluss erreichen, kommt man auf eine "Schwund"-Quote von aktuell zehn Prozent. "Wenn die Eingangszahlen der Studienanfänger zu hoch angesetzt werden, dann ist natürlich am Ende der Schwund umso größer", erklärt Dr. Volker Hildebrandt, Generalsekretär des MFT, im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Diese Zahlen aus der Sonderabfrage beim Statistischen Bundesamt sollen künftig auch in die Arztzahlstudie einfließen, sagt der Leiter der Statistikabteilung bei der KBV, Dr. Thomas Kopetsch, der "Ärzte Zeitung".

Egal, auf welche Abbrecherquote man sich festlegen will, ein Beweis für das Nachwuchsproblem in der Medizin ist es nicht. Im Gegenteil - denn das tatsächliche Problem liegt ganz wo anders und wird von vielen Statistiken verschleiert: der Abbruch der kurativen Tätigkeit nach der Weiterbildung.

"Während der Weiterbildung haben wir geringere Abbruchzahlen, denn viele wollen ihren Facharzt abschließen. Danach kommt es dann allerdings häufiger zum Ausstieg als in der Aus- und Weiterbildung", sagt Experte Hildebrandt.

Familienfreundlichkeit und Wiedereinstiegsprogramme

Der Ausstieg aus der ärztlichen Tätigkeit am Ende der Weiterbildung ist allerdings ein Problem, das sich kaum beziffern lässt: Die Bundesärztekammer hat keine validen Zahlen, wie viele Ärzte nach Ende der Weiterbildung aussteigen. "Dazu müssten die Landesärztekammern regelmäßige Erhebungen durchführen", so KBV-Mann Kopetsch.

Doch wer steigt aus der Versorgung aus? Es sind vor allem Ärztinnen, die eine Familie gründen. Zwar studieren immer mehr Frauen Medizin und arbeiten als Ärztin, dies allerdings nicht nach männlichen Erwerbsbiografien. Während derzeit im Studium noch 63 Prozent Studentinnen zu finden sind, erhalten heute Frauen nur 42 Prozent der Facharzterkennungen.

"Familienfreundlichkeit" am Arbeitsplatz heißt somit das seit vielen Jahren bekannte Zauberwort. Dabei geht es nicht nur um deutlich mehr Kinderbetreuungsplätze: "Wir müssen Möglichkeiten finden, dass Wiedereinstiegsprogramme geschaffen werden", sagt MFT-Generalsekretär Hildebrandt. Die Statistik verrät sogar noch mehr: "Wir wissen, dass das Reservepotenzial bei Ärztinnen und Ärzten bei rund 20 000 liegt", sagt KBV-Statistiker Kopetsch.

Fazit: Der oft zeitliche befristete Berufsausstieg nach der Weiterbildung bleibt von der Statistik her gesehen eine Black Box - und somit das größte Problem des Ärztemangels.

Zur Jahresendausgabe 2010 der "Ärzte Zeitung" mit allen Artikeln

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