Im Westen wie im Osten zu Hause

Der Arzt Professor Dr. Jürgen Kleditzsch gehört zu den Fachleuten, die nach der Wende für wenige Monate in politische Führungsämter kamen. Von März bis Oktober 1990 war er letzter Gesundheitsminister der DDR. Der Politik hat Kleditzsch adieu gesagt, in Beruf und im Privatleben ist er Grenzgänger zwischen Ost und West geblieben.

Von Jürgen Kleditzsch Veröffentlicht:

Am 9. November 1989 war ich zur Geburtstagsfeier bei meinem inzwischen verstorbenen Vater. In die Feier platzte die Nachricht von der Maueröffnung. Die Fenster der Nachbarn gingen auf, es war ein spontanes Freudenfest.

Der Beginn dieser friedlichen Revolution war gar nicht so friedlich, wie es in den Geschichtsdarstellungen immer geschildert wird. Gerade in Dresden war die Polizei in den Wochen zuvor bei den Demonstrationen brutal gegen die Menschen vorgegangen. Insofern war vor und auch nach dem 9. November keineswegs sicher, dass die Situation nicht noch eskalieren würde.

Offene "Systemkritik" war nur selten zu hören

Im Laufe des Jahres 1989 wurde im kleinen Kreis immer intensiver über die Situation in der DDR diskutiert. Es ging dabei aber fast immer nur um Fragen, wie dieses oder jenes aktuelle Problem bewältigt werden könnte. Offene "Systemkritik" dagegen war selten zu hören. Was heute gerne vergessen wird: Die DDR war eine Diktatur. Man wusste nie, ob nicht auch die Staatssicherheit bei einem Gespräch mithört oder sogar Gesprächspartner war. Ich habe oft miterlebt, wie unser Pfarrer wegen vorsichtig kritischer Äußerungen von den Behörden vorgeladen wurde.

Vor 20 Jahren habe ich als Außerordentlicher Professor und Leiter der Abteilung Physiotherapie in der Orthopädischen Klinik an der Akademie in Dresden gearbeitet. Die klinische Ausbildung der Ärzte war in der DDR auf einem hohen Niveau. Ich wage zu behaupten, dass wir damals bei Patienten die Bandscheibe nicht schlechter behandelt, operiert und rehabilitiert haben als dies heute mit modernster Technik geschieht. Allerdings waren die Mängel in der technischen Ausstattung jeden Tag ebenso offensichtlich wie die marode Bausubstanz der Gebäude.

Von einem klimatisierten Operationssaal konnten wir nur träumen. Viele Medikamente mussten über Sonderanträge aus dem - wie es damals hieß - kapitalistischen Ausland bestellt werden. Besonders in der Krankenpflege wurde die Situation ab Sommer 1989 immer katastrophaler, weil gerade viele fachlich qualifizierte Menschen in den Westen geflohen sind.

Wir sind in unserer Familie immer schon politisch interessiert und engagiert gewesen. Auch bin ich Mitglied der CDU gewesen, zudem waren und sind wir kirchlich orientiert. Das blieb nicht ohne Folgen. Die Staatsmacht hat uns spüren lassen, dass man uns nicht für "linientreu" hielt. Unsere Kinder haben erst nach Bewältigung großer Schwierigkeiten und unter Auflagen studieren dürfen.

Ich selber erhielt lediglich eine AO-Professur, Ordentlicher Professor konnte ich erst nach der Wende werden. Dass nach 1990 die Mitglieder der Ost-CDU als "Blockflöten" bezeichnet wurden, hat mich maßlos geärgert. Das konnte nur von Menschen stammen, die nicht in diesem Unrechtsstaat gelebt haben.

Ich bin quasi über Nacht im Dezember 1989 zum Bezirksarzt in Dresden ernannt worden und war bei der Wahl zur Volkskammer im März 1990 Spitzenkandidat der CDU in Dresden. Weil ich politisch nicht negativ belastet war und über Fachexpertise verfügte, hat man mich dann für den Posten des Gesundheitsministers in der Regierung von Lothar de Maiziére vorgeschlagen.

Mir war sehr schnell klar, dass Reformen im Gesundheitswesen nur möglich sein würden, wenn man das zentrale dirigistische Planungssystem abschafft. Andere Elemente des DDR-Gesundheitssystems wären durchaus erhaltenswert gewesen: es gab zum Beispiel ein gutes Betriebsgesundheitswesen, Impfsystem, Krebsregister oder die kinderorthopädische Betreuung waren ausgezeichnet. Es ist aber nicht gelungen, die Polikliniken so zu transformieren mit neuer Struktur und neuem Inhalt, dass sie überlebensfähig gewesen wären.

Das Gesundheitswesen der früheren DDR hat direkt nach den Ereignissen des 9. November große Unterstützung aus der alten Bundesrepublik erhalten. Als auch menschlich beeindruckend habe ich die gemeinsamen Kommissionen ab November 1989 in Erinnerung. In Dresden hat es zum Beispiel Krankenhauspartnerschaften mit Bayern und Baden-Württemberg gegeben, durch die wir auch schnelle Unterstützung bei der Medizintechnik erhalten haben.

Sprechstunde regelmäßig auch in Dresden

Persönlich ist die friedliche Revolution für meine Familie und mich ein Glücksfall gewesen. Meine Frau und ich haben alle Vor- und Nachteile des neuen Systems erlebt. Zwar lebe ich in Bayern, habe aber regelmäßig eine Sprechstunde in Dresden und bin den Menschen dort nach wie vor sehr verbunden. Wir haben für uns sozusagen die Deutsche Einheit schon vollzogen. Auch politisch gesehen sehe ich die Einheit insgesamt auf einem guten Weg. Man muss mit Geduld und Verstand einen Stein auf den anderen setzen, bis das Haus vollendet ist.

Aufgezeichnet von Florian Staeck

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ZUR PERSON

Professor Dr. Jürgen Kleditzsch

Jürgen Kleditzsch (65) war 1989 Professor für Physiotherapie an der Medizinischen Akademie Dresden. Studiert hat er Medizin von 1963 bis 1969 in Leipzig. Daran schloss sich die Ausbildung zum Facharzt für Physiotherapie und Orthopädie an. Kleditzsch ist 1977 in die Ost-CDU eingetreten. Im März 1990 zum Mitglied der Volkskammer gewählt, war er von April bis zum 2. Oktober 1990 Gesundheitsminister der DDR. Im Jahr 2002 ist er aus der CDU ausgetreten. Heute betreibt er mit seiner Frau Hannelore eine Privatpraxis in Neu-Ulm.

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