DDR

Terrorsystem in der "Tripperburg"

Misshandlung? Diskriminierung durch Medizin? In der DDR gab es sie. Das belegen Professor Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Uni Halle, und sein Mitarbeiter Maximilian Schochow in einer wissenschaftlichen Studie.

Veröffentlicht:

HALLE. In der geschlossenen Abteilung der ehemaligen Poliklinik Mitte in Halle sollten in den 1960er und 70er Jahren Frauen unter dem Vorwand der Behandlung von Geschlechtskrankheiten zu "sozialistischen Persönlichkeiten" erzogen werden.

Die Methoden waren brutal und unmenschlich: Das Kahlscheren des Kopfes gehörte genauso dazu wie tägliche gynäkologische Untersuchungen, meist durch das Pflegepersonal, der graue "Anstaltskittel", Trinkverbot, Essensentzug oder Strafen wie Nachtruhe auf einem Hocker.

"Wir dürfen so etwas nicht verdrängen. Die Aufarbeitung der Geschichte hilft uns, jeden Tag dafür einzustehen, dass uns die freiheitlich demokratische Grundordnung erhalten bleibt", sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident, Reiner Haseloff (CDU), den die Lektüre des im Mitteldeutschen Verlags erschienen Buches tief betroffen gemacht hat.

In Auftrag gegeben hatte die Studie die Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Birgit Neumann Becker, nachdem ihr das Schicksal der Frauen bekannt geworden war. Bis Mitte 2013 hatten sich 13 Betroffene gemeldet. "Die Gespräche halfen den Frauen aus ihrer jahrzehntelangen Sprachlosigkeit."

Professor Florian Steger aus Halle selbst hat die wissenschaftliche Aufarbeitung tief erschüttert. Er spricht von einem hierarchischen Terrorsystem, in dem Frauen gegen ihren Willen untersucht und behandelt worden sind.

"Die venerologische Abteilung der Poliklinik war ein geschlossenes System mit vergitterten Fenstern, 30 Betten, mehreren Schlafräumen." Die Patientinnen seien zwischen zwölf und 72 Jahren alt gewesen, das Durchschnittsalter lag bei 22 Jahren.

Hauptsächliche Gründe für die Einweisung in die allgemein als "Tripperburg" bezeichnete Einrichtung waren Anzeigen durch Dritte, Denunziationen, Festnahmen wegen Herumtreibens oder Missachtung der Meldepflicht.

Deflorierung bei der Erstuntersuchung

Die Studie belegt, dass nur etwa 30 Prozent der Frauen eine Geschlechtskrankheit hatten. Viele junge Mädchen seien während der Erstuntersuchung defloriert worden.

Autor Florian Steger: "Die Funktion war nicht therapeutischer, sondern rein pädagogischer Natur." Hierin liege der eigentliche Unterschied zu geschlossenen Stationen für Geschlechtskrankheiten im westlichen Teil Deutschlands, die auch hier aufgrund des starken Anstiegs derartiger Erkrankungen nach dem Krieg eingerichtet worden waren.

Die Frauen in Halle seien entgegen der in der DDR geltenden gesetzlichen Bestimmungen zwangseingewiesen und verwahrt worden.

Eine Patientin beschreibt die Aufnahmeprozedur, bei der ihr eine Glatze geschnitten, sie mit kaltem Wasser übergossen und einem Schrubber gereinigt wurde, als reine Demütigung. "Wer sich gegen die Intimrasur wehrte, bekam Schläge."

Bevor die Frauen nach vier bis sechs Wochen aus der venerologischen Station entlassen worden sind, mussten sie eine Schweigeerklärung unterschreiben. Steger schätzt, dass etwa 5000 Frauen die Hölle in der Saalestadt durchlitten haben.

Für andere Einrichtungen dieser Art in mindestens zehn weiteren Städten der DDR hätte die Hallenser Abteilung eine Art Vorbildfunktion gehabt. Anstaltsordnung, Aufnahme- und Behandlungsprozeduren seien abgekupfert worden. Dahinter verberge sich, so die Prognose, 50.000-faches Leid.

Steger und Schochow wollen ihre Forschungen fortsetzen und suchen den Kontakt zu weiteren betroffenen Frauen. Den beiden Wissenschaftlern geht es dabei auch um ein Stück Wiedergutmachung. Denn der DDR sei es gelungen verunsicherte, unmündige Bürgerinnen heranzuziehen, die bis heute unter Spätfolgen leiden.

Dazu gehören massive Ängste vor gynäkologischen Untersuchungen, Schlafstörungen, sexuelle Unlust, Inkontinenzen, Beziehungs- und Kinderlosigkeit. Bis heute hätte keine der Internierten eine Opferentschädigung erhalten. (zie)

Florian Steger/Maximilian Schochow: Disziplinierung durch Medizin. Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 bis 1982. 184 Seiten, Mitteldeutscher Verlag Halle, ISBN 978-3-95462-351-8

Mehr zum Thema

Frage der Woche

Greifen Sie das Thema Organspende in der Sprechstunde auf?

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Der papierene Organspendeausweis soll bald der Vergangenheit angehören. Denn noch im März geht das Online-Organspende-Register an den Start.

© Alexander Raths / Stock.adobe.com

Online-Organspende-Register startet

Wie Kollegen die Organspende-Beratung in den Praxisalltag integrieren