EGMR-Urteil

Organspende nicht ohne die Mutter

Selbst in Ländern mit einer Widerspruchslösung gibt es bei der Organspende nach dem Tode Grenzen. Eine hat jetzt der EU-Gerichtshof für Menschenrechte festgezurrt.

Veröffentlicht:
EGMR in Straßburg: Explantation ohne Einwilligung verletzt Menschenrechte.

EGMR in Straßburg: Explantation ohne Einwilligung verletzt Menschenrechte.

© Rolf Haid / dpa

STRAßBURG. Eine Organentnahme ohne die Einwilligung der Angehörigen kann selbst bei einer Widerspruchslösung gegen geltende Menschenrechte verstoßen. In einem solchen Fall hat am Dienstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg den EU-Mitgliedsstaat Lettland verurteilt.

In dem verhandelten Fall hatte eine lettische Frau gegen den Staat geklagt. Ihrem Sohn waren im Jahr 2002 nach den tödlichen Folgen eines Autounfalls in einem Krankenhaus sowohl Nieren als auch Milz entnommen worden. Zum Zeitpunkt des Todes war der Mann 23 Jahre alt.

In Lettland gilt für die Organentnahme eine Widerspruchslösung, bei der der mutmaßliche Spenderwille grundsätzlich angenommen wird, solange der Spender nicht widerspricht, beziehungsweise bei Kindern dies die Eltern tun.

Über die Organentnahme bei dem jungen Mann wurde die Mutter als nächste Angehörige seinerzeit nicht informiert. Sie erfuhr davon erst aus einem Obduktionsbericht. Eine Beschwerde, die Explantation habe gegen ihre Rechte als Angehörige verstoßen, wiesen die nationalen Gerichte ab. Zur Begründung führte der Generalstaatsanwalt damals aus, die Klinik habe keine Informationen darüber gehabt, wie die Frau zu erreichen gewesen wäre.

In der Folge wandte sie sich an den EGMR. Der sollte unter anderem feststellen, dass Regelungslücken im nationalen Recht zur Angehörigeninformation gegen Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte verstoßen. In dem Artikel wird das "Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens" festgeschrieben.

Der EGMR gab der Frau nun Recht. Da sie nicht über die Organentnahme informiert wurde, habe sie ihre Rechte als Angehörige nicht ausüben können, etwa in Form eines Widerspruchs. Dies habe ihr Recht auf "Privatleben" beeinträchtigt. Denn das damalige lettische Recht habe nahen Angehörigen durchaus zugestanden, ihre Wünsche bezüglich einer Organentnahme bei Gestorbenen zu äußern.

Allerdings wurden in den einschlägigen Vorschriften damals keine Vorgaben gemacht, inwieweit Ärzte oder Krankenhäuser den Kontakt zu Angehörigen suchen müssen. Diese Regelungslücke, die zu einem "vermuteten Einwilligungssystem" führe, betrachten die Straßburger Richter als "unklare Praxis". Sie habe dazu geführt, dass Angehörige nicht das ihnen zugebilligte Recht, namentlich eines möglichen Widerspruchs, ausüben können - wie im konkreten Fall geschehen.

Die gesetzlichen Vorgaben müssten "hinreichend präzise" formuliert sein und den Bürgern einen adäquaten Rechtsschutz gegen "Willkür" einräumen, monierten die Richter. Da dies zum Zeitpunkt der verhandelten Organentnahme nicht der Fall gewesen sei, habe das damalige lettische Recht gegen Artikel 8 der EU-Menschenrechtskonvention verstoßen.

Der Staat Lettland muss der Entscheidung zufolge 15.000 Euro an die Mutter ihres damals verstorbenen Sohnes zahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Beide Parteien haben nun drei Monate Zeit, sich mit einer Beschwerde an die große Kammer des EGMR zu wenden. (nös)

Az.: 4605/05

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

© AspctStyle / Generiert mit KI / stock.adobe.com

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Tab. 1: Empfohlene Anfangsdosierungen von Ruxolitinib bei akuter und chronischer GvHD in Abhängigkeit vom Alter

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [5, 6]

Graft-versus-Host-Erkrankung

JAK1/2-Hemmung jetzt für Kinder unter zwölf Jahren und in neuer Darreichungsform möglich

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Novartis Pharma GmbH, Nürnberg
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Neuer Verschlüsselungsalgorithmus in der TI

gematik verlängert Frist für Austausch der E-Arztausweise

Lesetipps
Mit einer eher seltenen Diagnose wurde ein Mann in die Notaufnahme eingeliefert. Die Ursache der Hypoglykämie kam erst durch einen Ultraschall ans Licht.

© Sameer / stock.adobe.com

Kasuistik

Hypoglykämie mit ungewöhnlicher Ursache

Die Glaskuppel zur Notfallreform: Zustimmung und Zweifel

© undrey / stock.adobe.com

Kolumne aus Berlin

Die Glaskuppel zur Notfallreform: Zustimmung und Zweifel