Süchtig im Heim

Ob Alkohol, Zigaretten oder Medikamente: Sucht wird offenbar zunehmend ein Problem bei älteren Menschen - auch im Pflegeheim. Davor warnt die Regierung. Zumindest ein bisschen, denn sie hat ein Problem: Ihr fehlen fundierte Daten.

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Wie viele Heimbewohner tatsächlich alkoholsüchtig sind, ist nicht wirklich bekannt.

Wie viele Heimbewohner tatsächlich alkoholsüchtig sind, ist nicht wirklich bekannt.

© Ingo Wagner / dpa

BERLIN (af/dpa). Zahlreiche Pflegebedürftige in Deutschland sind abhängig von Alkohol und Medikamenten. Das geht aus der Antwort des Gesundheitsministeriums auf eine Anfrage der SPD-Fraktion hervor, die der "Ärzte Zeitung" vorliegt.

Die Regierung zitiert darin eine repräsentative Umfrage, nach der vier von fünf stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen Menschen mit Suchtproblemen betreuen. Vor allem Alkohol und Arzneimittel würden in riskanter Weise konsumiert.

"Nach Einschätzung der Pflegenden sind im Mittel sieben Prozent der Klientinnen und Klienten in den stationären Pflegeeinrichtungen medikamentenabhängig", heißt es in der Regierungsantwort weiter.

Mehrere Forschungsprojekte widmeten sich der "potenziell inadäquaten Medikation von Menschen in Alten- und Pflegeheimen". Ziel sei es, aktuelle Erkenntnisse über die aktuelle Einnahme von Benzodiazepinen und anderen Psychopharmaka zu erlangen.

Wie weit Alkohol- und Medikamentenkonsum älterer Menschen tatsächlich verbreitet sind, ist allerdings nicht wirklich bekannt.

Auch die Regierungsantwort auf die Fragen der SPD-Abgeordneten bleibt bei Schätzungen stellt aber fest: "Auch im höheren Erwachsenenalter ist die Abhängigkeit und der Missbrauch von Substanzen kein Problem von Randgruppen".

Hinweise auf die Ausmaße finden sich hingegen in verschiedenen Suchtberichten.

Arzneien - ein Problem bei Frauen

Bei Menschen jenseits der 65 sinke die Toleranz für Alkohol, stellt zum Beispiel das Jahrbuch Sucht 2012 der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) fest. In jüngeren Jahren noch verträgliche Mengen an Alkohol wirkten sich stärker aus.

Der Blutalkoholpegel steige schneller. In Verbindung mit der bei älteren Menschen häufigeren gleichzeitigen Einnahme von Medikamenten entständen so Probleme.

Die Auswertung einer telefonische Umfrage des Robert Koch-Instituts (RKI) unter über 65-Jährigen hat demnach bereits 2009 ergeben, dass 18 Prozent der Frauen und 28 Prozent der Männer mit ihrem Alkoholkonsum Gesundheitsrisiken eingingen.

Mit zunehmendem Alter nehme der problematische Konsum anscheinend ab, schrieben die Autoren der DHS in ihrem aktuellen Bericht.

Die SPD-Suchtexpertin Angelika Graf geht davon aus, dass bis zu zwei Millionen Menschen über 60 Jahre problematisch viel psychoaktive Medikamente nehmen. Vor allem Frauen seien betroffen. 27 Prozent der Männer tränken Alkohol in suchtgefährdender Weise.

Möglicherweise liegen die Zahlen sogar höher. Die DHS widmete der Medikamentenabhängigkeit in ihrem Suchtbericht 2010 ein eigenes Kapitel. Demzufolge nehmen bis zu 2,8 Millionen der über 60-jährigen Menschen in Deutschland mehr Medikamente ein als ihnen gut tun.

Jeder Zehnte über 75 mit Suchtproblemen?

Die DHS will nach Angaben der Regierung im Jahr 2013 eine Fachtagung zu diesem Thema veranstalten, um konkretere Fakten zu dieser Problematik zu gewinnen.

Trauen sollte man denn auch bislang keiner dieser Zahlen. Fachleute der Vivantes-Suchtkliniken mahnen an, die epidemiologischen Daten zur Sucht im Alter kritisch zu betrachten. Sie lägen zu niedrig.

Tatsächlich müssten Hausärzte damit rechnen, dass etwa zehn Prozent ihrer männlichen und vier Prozent ihrer weiblichen Patienten über 75 Jahre ein Suchtproblem haben könnten.

Ältere Patienten versuchen offenbar, ihre Abhängigkeit zu verschleiern. Das gilt vor allem für diejenigen, die erst mit der Rente oder nach dem Tode des Partners abhängig werden, weniger die alt werdenden Langzeitabhängigen.

Glaubhaft abstinent sei in dieser Altersgruppe nur ein Viertel der Bevölkerung, sagte der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Vivantes-Klinikum Berlin-Hellersdorf, Dr. Tilman Wetterling, bei einer Veranstaltung im vorigen Jahr.

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