Bremen

Ein Pflegeheim macht Respekt vor

Brutalität in der Pflege? In Bremen hat vor kurzem ein Fall für große Aufregung gesorgt. Der Besuch in einem anderen Heim für Demenzpatienten in der Hansestadt zeigt, wie respektvolle Pflege gut funktionieren kann.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Gemeinsames Gespräch über einen Demenzpatienten: Hausärztin Dr. Heike Diederichs-Egidi und Pfleger Mario Meding kooperieren im Ella-Ehlers-Pflegeheim in Bremen-Gröpelingen.

Gemeinsames Gespräch über einen Demenzpatienten: Hausärztin Dr. Heike Diederichs-Egidi und Pfleger Mario Meding kooperieren im Ella-Ehlers-Pflegeheim in Bremen-Gröpelingen.

© Beneker

BREMEN. "Ach du min leeve Tied! Wat is dat för een?" Anne B., hat sich aufs Plattdeutsch besonnen: "Ach, du liebe Zeit! Wer ist das?", ruft die alte Dame in der Sprache ihrer Kindheit in den leeren Raum.

Wie Frau B. sind viele Bewohnerinnen und Bewohner des Ella-Ehlers-Pflegeheimes in Bremen-Gröpelingen dement, ihre Versorgung ist eine Herausforderung.

Kürzlich wurde in einem anderen Heim Bremens ein Fall unglaublicher Brutalität in der Pflege aufgedeckt. Ein besorgter Sohn hatte mit einer heimlich angebrachten Video-Kamera Gewaltszenen einer Pflegerin gegen seine Mutter dokumentiert und Anzeige erstattet.

Seither sehen sich viele Heime zu Unrecht in der Kritik. "Das fällt jetzt alles auf uns zurück", fürchtet die Gröpelinger Heimleiterin Annette Zarnitz.

Ein Multi-Kulti-Viertel

Die Hausärztin von vielen ihrer Bewohner ist Dr. Heike Diederichs-Egidi. Sie arbeitet seit drei Jahren in ihrer Praxis hier in dem ehemaligen Arbeiter- und heutigen Multi-Kulti-Viertel Bremens.

In Gröpelingen heißen die Straßen Dockstraße, Schiffbauerweg oder Werftstraße. Und um die Ecke liegt die Fatih-Moschee. Die Hausärztin ist die einzige der Stadt mit der Zusatzbezeichnung "Geriatrie".

Sie sagt, der Nationen-Mix sei auch im Seniorenheim wiederzufinden. Heute ist Diederichs-Egidi auf Hausbesuch im Ella-Ehlers-Haus, zehn Fußminuten entfernt von ihrer Praxis.

Die Versorgung dementer Patienten ist bei der Hausärztin quasi eine persönliche Tradition. In den 1980er Jahren hat Bremen erstmals Kriterien der Demenz-Abklärung entwickelt, und Diederichs-Egidi war dabei.

"Irgendwann wurde uns klar, dass es nicht sein kann, Männer aus der Kriegsgeneration mit Kochkursen zu nerven oder verwirrte, alte Damen Spritzbilder herstellen zu lassen, bei denen man eine Zahnbürste zum Farbauftrag benutzt. Nach zehn Minuten hatten alle blaue und grüne Zähne."

Inzwischen habe man gelernt, dass Kindheits-und Jugenderfahrungen der Demenz-Patienten für die Arbeit mit ihnen wichtiger sind als neu zu erlernende Tätigkeiten. "Zahnbürsten waren immer zum Zähneputzen da und noch nie zum Malen!"

Diederichs-Egidi betritt das Zimmer von Elisabeth M. und begrüßt zunächst "Püppi", die Puppe im Arm der 99-jährigen Frau. Erst dann kann sie die greise Patientin untersuchen.

Pfleger Mario Meding, einer der wenigen examinierten männlichen Pflegekräfte, sagt, als die Ärztin aus dem Zimmer kommt: "Frau M. sieht zerbrechlich aus, aber sie hat Kraft. Manchmal wehrt sie sich mit Händen und Füßen, wenn wir ihr zum Beispiel eine neue Vorlage anlegen wollen. Es ist dann richtig schwer, sie zu versorgen."

Herausforderndes Verhalten nennen das Fachleute. Die Pflegewirklichkeit ist damit gespickt.

Es dürften Situationen wie diese sein, die zu Gewalt in der Pflege führen können. Aber mit Frau M. ist Diederichs-Egidi heute hochzufrieden: "Sie spricht jetzt ganze Sätze!"

An die Wand eines Stationszimmers hat jemand einen Zettel gepinnt: "Es ist nicht gesagt, dass es besser wird, wenn es anders wird. Wenn es aber besser werden soll, muss es anders werden."

Und irgendein Witzbold hat handschriftlich darunter geschrieben: "Und Ordnung ist das halbe Leben!" Will wohl sagen: Sprüche helfen uns auch nicht. Aber was dann?

Späte Revanche für Kränkungen?

Gabriele Wilkens, Dozentin für Altenpflege an der Berufsfachschule in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen, schätzt die Dunkelziffer bei Gewalt in der Pflege "relativ hoch" ein, vor allem in der heimischen Pflege.

"Ob da am jetzt hilflosen Ehepartner oder der -partnerin Revanche für erlittene Kränkungen genommen wird, kann man nur vermuten", sagt Wilkens. Sicher sei: Gewalt in der Pflege wird meist unbewusst ausgeübt.

So ein krasser Fall, wie jetzt in einem Bremer Heim dokumentiert, sei die Ausnahme. Aber die Pflegebedürftigen kurzerhand in andere Zimmer zu verlegen oder die wichtigen Getränke zu "vergessen", sei auch Gewalt.

"Wenn die Alten in ihrer Jugend nicht täglich geduscht haben, werden sie es auch im Alter als unangebracht empfinden und sich wehren", berichtet Wilkens von einer anderen Form der Gewalt.

"Aber die Badewanne kennen sie. Also sollte man sie im Zweifel baden - auch wenn es mehr Zeit kostet."

Die Pflegenden bräuchten mehr Informationen über die Biografien der Bewohner und eine gute Selbsteinschätzung, um schwierige Situationen am Pflegebett zu meistern, sagt er.

Hausärztin Diederichs-Egidi hat inzwischen im nächsten Stationszimmer Platz genommen, und überall ist es zuerst dasselbe Ritual. Man beugt sich über die Akten. "Was hier alles dokumentiert wird, liest sowieso niemand", sagt Diderichs-Egidi.

Und was sie noch viel mehr ärgert: "In meiner Praxis dokumentiere ich alles noch einmal. Und das liest auch niemand!" In der Tat sind die Untersuchungen kurz, die Dokumentationen nachher lang.

Papier ist geduldig, die Ärztin nicht: "Wir gehen dann frustriert nach Hause, weil wir mehr Zeit für die Patienten brauchen und nicht haben!"

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