Fall Niels H.

Nach Mordserie geht‘s für Kollegen um Resilienz

In Oldenburg haben die ersten Resilienztage stattgefunden – als Reaktion auf die Mordserie von Pfleger Niels H. Klinik-Mitarbeiter sollten in der psychisch anspruchsvollen Arbeit am Bett von Schwerstkranken geschult werden, systematisch auf persönliche Ressourcen zurückzugreifen.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Für Niels H. lautete das Gerichtsurteil Ende Februar 2015 auf lebenslange Haft.

Für Niels H. lautete das Gerichtsurteil Ende Februar 2015 auf lebenslange Haft.

© Ingo Wagner / dpa

OLDENBURG. Aus tragischem Anlass haben sich im niedersächsischen Oldenburg mehr als 1000 Ärzte, Pflegende und andere Berufsgruppen zum Thema Resilienz getroffen. Hintergrund sind die Patientenmorde des ehemaligen Krankenpflegers Niels H. am Klinikum Oldenburg.

Wahrscheinlich hätte eine höhere Widerstandskraft gegen den Stress auf einer Intensivstation die Verbrechen des Mannes nicht verhindert, sagt die Journalistin und Buchautorin Dr. Christina Berndt, die auf den vom Klinikum organisierten Oldenburger Resilienztagen sprach.

"Aber wie kann ich damit klar kommen, dass ich als Pflegende oder Arzt mit Niels H., dem Pfleger, der mordete, zusammengearbeitet habe – und nichts bemerkte?" so Berndt zur "Ärzte Zeitung". Auch hier sei Resilienz gefragt.

Überhaupt leben Berufsgruppen wie Ärzte und Pflegekräfte in Krankenhäusern offenbar ungesund. 10 bis 30 Prozent haben bereits einen "Burnout".

Denn sie sind besonders betroffen von aufreibenden Arbeitssituationen, sagte der Psychiater und Leiter des Deutschen Resilienzzentrums in Mainz, Professor Oliver Tüscher.

Er riet bei der Veranstaltung in Oldenburg, nicht auf die Folgen des Stresses zu warten, um sie dann zu behandeln, sondern rechtzeitig die Widerstandskräfte der Betroffenen zu stärken – ihre Resilienz. Aber wie? Die Grundlagenforschung ist noch ganz am Anfang.

Ärzte haben besonders hohes Risiko

Ärzte in Kliniken haben, was seelische Leiden angeht, offenbar ein besonders hohes Risiko, meinte Tüscher.

Denn ihr Arbeitsplatz und die Arbeitsumstände sind oft nicht geeignet für einen gedeihlichen Arbeitsalltag: "Besonders gesundheitsgefährdend ist die Einschränkung der Lebensqualität durch Unkollegialität, also durch Mobbing."

Dazu kommen die überlangen Arbeitszeiten, schwer kranke und sterbende Patienten, das althergebrachte Hierarchiegefüge, die immer noch geringe Team-Orientierung, das Einzelkämpfertum auf den Stationen, der Personalmangel und die daraus resultierenden Überstunden und schließlich die Ökonomisierung und Bürokratisierung.

Viele Ärzte und Pflegende klagen deshalb über Burnout. "Er ist erkennbar, wenn sich zur Erschöpfung auch Zynismus und Leistungsminderung gesellen", warnte Tüscher.

Die Betroffenen werden labiler, lassen sich schneller aus der Contenance bringen, vergessen Verabredungen. Die Folgen: seelische Erkrankungen. Die Prävalenz psychischer Erkrankungen, wie Angst und Depressionen und des Substanzmissbrauchs seien bei Ärzten erhöht, so Tüscher.

Prävalenz für Suizid höher

Der Risikoumgang mit Alkohol etwa liege im Vergleich zur Normalbevölkerung um rund 15 Prozent höher. Die Prävalenz für Suizid um das 1,3- bis 3,4-fache höher als in der Allgemeinbevölkerung."

Viel Arbeit für Psychotherapeuten? Wohl wahr. Aber Tüscher setzte an andere Stelle an. Die Erschöpften brauchen rechtzeitig die erstaunlichen Fähigkeiten eines Schwammes, meint der Mainzer Psychiater.

Denn wie sehr man den Schwamm auch zerdrückt und quetscht – immer springt er nachher in seine alte Form zurück. Er ist vollkommen "resilient"; ein Begriff aus der Materialwissenschaft.

Übertragen auf den Stationsstress sei Resilienz die "Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Rückgewinnung der psychischen Gesundheit während oder nach widrigen Lebensumständen".

So können Menschen nach einer traumatischen Erfahrung tatsächlich ihre vorherige Verfassung wiedergewinnen oder ganz unbeeindruckt von einer Krise die alte Form bewahren. "Oder sie können durch die Krise sogar zu einem posttraumatischen Wachstum kommen", erklärte Psychiater Tüscher.

Ein lebenslanger Prozess

Resilienz ist aber kein Zustand, sondern ein lebenslanger, aktiver und dynamischer Prozess. Ob Resilienz vorhanden ist, zeigt sich daran, "ob der Betroffene nach dem Trauma psychisch funktioniert."

Tüscher und seine Kollegen wollen nun erforschen, welche Hirnfunktionen für Resilienz verantwortlich sind, ob und wie man sie messen kann, "und ob wir eines Tages vorhersehen können, wie ein Mensch sich nach großen Belastungen verhält", sagte er.

"Und wenn wir die Hirnfunktionen verstehen, verstehen wir auch die Schutzfunktionen des Hirns und ob und wie sie trainierbar sind." Bisher gebe es noch keine neurowissenschaftliche Resilienzforschung in Europa.

Aber schon jetzt probieren Tüscher und seine Kollegen vom Deutschen Resilienzzentrum Trainings für "Risikopersonen" aus, unter anderem für Ärzte. Aber: "Wir bieten es nicht allgemein an, damit sich belastete Vielarbeiter womöglich noch besser ausbeuten."

Im Hinblick auf Unternehmen wie etwa Krankenhäuser verweist die Journalistin Dr. Christina Berndt auf den Umstand, dass auch Unternehmen Resilienz entwickeln können - oder eben nicht. "Es gibt Unternehmen, die stehen Krisen durch und solche, die es nicht tun", sagte sie auf der Veranstaltung in Oldenburg.

Mitarbeiter müssen gehört werden

Und tatsächlich haben das die beiden Krankenhäuser in Delmenhorst und Oldenburg, in denen der ehemalige Pfleger Niels H. tötete, nötig. Denn zumindest in Delmenhorst sackten die Patientenzahlen nach den Morden ab.

"Der einzelne Mitarbeiter und auch ein Unternehmen brauchen, um resilient zu sein, die Erfahrung, selber etwas bewirken zu können", sagte Berndt. Solche Selbstwirksamkeit sei nur in Unternehmen möglich, in denen die Mitarbeiter Mitspracherecht haben und auch gehört werden.

Der Geschäftsführer des Klinikums Oldenburg, Dr. Dirk Tenzer, hatte die Veranstaltung angeregt. Um die Folgen von Arbeitststress von Intensivpflegenden zu mindern, setze er nicht etwa auf die Rotation von Intensivpflegenden, sie also zwischendurch auf Normalstationen einzusetzen, um die Belastung vorübergehend zu senken, so Tenzer.

Dazu sei die Nähe der Pflegekräfte zur Medizin und ihre Suche nach Herausforderungen zu groß. "Sie sollen lernen, mit dem Erlebten besser klarzukommen."

Die Mitarbeiter des Oldenburger Klinikums jedenfalls nahmen das Angebot offenbar sehr interessiert auf. "Wir waren vollkommen überrascht, dass so viele Menschen zu den Auftaktveranstaltungen gekommen sind", zog Rita Wick, Organisatorin der Resilienztage, Bilanz.

Chronologie des Falls Niels H.

November 2014: Eine Sonderermittlungsgruppe der Polizei geht Hinweisen nach, dass ein Krankenpfleger in Niedersachsen über Jahre hinweg mehr als 170 Patienten getötet haben soll.

Februar 2015: Niels H. gesteht, 30 Klinik-Patienten getötet zu haben. Zwei Morde können nachgewiesen werden, H. wird zu lebenslanger Haft verurteilt.

März 2015: Die Polizei öffnet Gräber, bis April 2016 werden mehr als 80 Verstorbene exhumiert.

Juni 2016: Bei 27 von 99 exhumierten ehemaligen Patienten des Klinikums Delmenhorst seien Rückstände eines Herzmedikaments entdeckt worden, sagt der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme.

Oktober 2016: Der niedersächsische Landtag will ein umfangreiches Maßnahmenpaket auf den Weg bringen, um ähnlich Vorfälle zu verhindern. Dazu sollen das Landeskrankenhaus- und das Bestattungsgesetz novelliert werden.

November 2016: Die Staatsanwaltschaft Oldenburg klagt im Zusammenhang mit den Mordfällen des Ex-Pflegers Niels H. in den Jahren 2002 bis 2005 auch damalige Pfleger und Ärzte des Klinikums Delmenhorst an – wegen Totschlags durch Unterlassung. (aze)

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