Zwangsbehandlung

Ethikrat sucht nach dem goldenen Mittelweg

Wann ist eine medizinische Zwangsbehandlung fürsorglicher Schutz, wann ein unangemessener Eingriff? Wie kann ein ethischer Rahmen für so wenig Zwang wie möglich aussehen? Diesen Fragen widmet sich aktuell der Deutsche Ethikrat. In einer ersten Anhörung ging es um die aktuelle Lage bei psychischen Erkrankungen.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Einweisungen in die Psychiatrie sind manchmal Notlösungen, weil geeignete Alternativen fehlen.

Einweisungen in die Psychiatrie sind manchmal Notlösungen, weil geeignete Alternativen fehlen.

© Schmidt/dpa

Beim Thema Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie liegt bislang einiges im Graubereich. Denn verlässliche bundesweite Zahlen zu den vollzogenen zwangsweisen Unterbringungen gibt es nicht. Laut einer Studie der Hochschule Würzburg-Schweinfurt ist jedoch die Zahl der jährlichen Gerichtsverfahren dazu von 2002 bis 2013 um knapp 40 Prozent gestiegen.

Dass die Problematik an Brisanz gewonnen hat, steht für Dr. Detlev Gagel außer Frage. Der Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes (SPDi) in Berlin- Pankow muss nahezu täglich entscheiden, ob eine Zwangseinweisung nötig ist oder nicht. In der Sitzung des Ethikrates verwies der Experte auf die in seinem Bezirk gestiegene Zahl an beantragten Unterbringungen: 2015 waren es 303, fünf Jahre zuvor noch 186. Junge Männer, die psychisch erkranken und von Suchtmitteln abhängig sind, gehören ebenso zur typischen Klientel wie demenziell erkrankte Senioren, die sich nicht mehr allein versorgen können.

Wo sind die Betroffenen gut aufgehoben?

In vielen dieser Fälle sind die Klinikpsychiatrien die ersten Anlaufstellen. Die Zwangseinweisung in eine geschlossene Einrichtung ist bislang die Voraussetzung für eine ärztliche Zwangsbehandlung. Doch sind die Betroffenen dort auch gut aufgehoben? Professor Andreas Heinz, Chef der psychiatrischen Klinik an der Berliner Charité, macht an einem Beispiel das Dilemma deutlich: Nachts wird zwangsweise ein junger Mann aufgenommen, der aufgrund seiner chronischen psychischen Erkrankung laufend Stimmen hört. Wie sich später herausstellt, wollte er das innere Stimmengewirr übertönen, in dem er sein Radio auf volle Lautstärke drehte. Seine Nachbarn reagierten empört, der Konflikt eskalierte und die herbeigerufene Polizei veranlasste, den Mann gegen seinen Willen in der geschlossenen Psychiatrie unterzubringen.

Eine medizinische Zwangsbehandlung, so Heinz, folgt daraus nicht. Sie ist nur dann angezeigt, wenn der Patient die Folgen einer Nicht-Behandlung nicht einschätzen kann und sich selbst oder andere extrem gefährdet. Wie etwa jene Frau, die aufgrund einer Herpes-Enzephalitis in ein Delirium geriet und jede Behandlung ablehnte. Sie war im Nachhinein dankbar, dass die Ärzte tätig wurden. Im Falle des nächtlichen Ruhestörers könne man sich allenfalls fragen, ob eine drohende Obdachlosigkeit, die aus einem Nachbarschaftsstreit durchaus folgen kann, bereits als ,schwerer Gesundheitsschaden‘ einzustufen sei oder ob die Gesellschaft den anderen Lebensstil Einzelner ertragen müsse. Grundsätzlich gelte es, jeden Einzelfall sorgfältig abzuwägen, um eine ärztliche Zwangsmaßnahme möglichst zu vermeiden. Fest steht für Andreas Heinz aber auch: "Psychiatrien sind nicht dazu da, Einzelne wegzusperren, damit der Rest der Gesellschaft unbehelligt leben kann."

Hoffnungsschimmer "Home Treatment"

"Es gibt Lebenssituationen, in denen nichts Anderes möglich ist", sagte dagegen Matthias Rosemann in der Sitzung des Ethikrates, "aber wir müssen über mildere Mittel nachdenken." Der Geschäftsführer der Berliner Träger GmbH leitet das Forschungsprojekt "Zwangsvermeidung im psychiatrischen Hilfesystem", das, finanziert durch das Bundesgesundheitsministerium, 2016 seine Arbeit aufgenommen hat. Ziel ist es, Alternativen zu den Zwangsmaßnahmen zu definieren und praktische Vorschläge zu deren Umsetzung zu erarbeiten. Zentral sei dabei die Frage, wie lange die Gesellschaft zuschaut, wenn sich jemand selbst gefährdet.

SPDi-Chef Gagel ist überzeugt, dass sich aufgezwungene Psychiatrieaufenthalte nur vermeiden lassen, wenn es andere stationäre Kriseneinrichtungen gibt. In Berlin bietet dies nur ein freier Träger an – viel zu wenig für eine Stadt mit rund 3,5 Millionen Einwohnern. Sinnvoll wäre zudem, ambulante Hilfen wie die Soziotherapie oder Modelle der integrierten Versorgung auszuweiten. Einen positiven Schritt sieht Gagel darin, das "Home Treatment" zur Behandlung psychisch Kranker im häuslichen Umfeld als Klinikleistung einzuführen. Dies steht mit der Neufassung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) bereits auf der gesundheitspolitischen Agenda.

Mediziner werden sich mit der Frage einer ärztlichen Zwangsbehandlung künftig häufiger befassen müssen. Der Gesetzgeber will das Betreuungsrecht reformieren und ärztliche Zwangsbehandlungen im Rahmen eines regulären stationären Aufenthalts ermöglichen. Auch der Deutsche Ethikrat nimmt für seine Stellungnahme nicht nur die Psychiatrie, sondern die gesamte Versorgungskette von der Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Pflege in den Blick. Weitere Anhörungen sollen im Mai folgen.

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