HINTERGRUND

Palliativmediziner warnen vor Aktionismus

Von Bülent Erdogan Veröffentlicht:

Gut drei Monate nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) müssen Tausende Sterbenskranke weiter auf das mit der Gesundheitsreform beschlossene Versorgungsangebot warten. Grund: Kassen und Leistungserbringer sind sich noch immer nicht über die Rahmenbedingungen einig. Palliativmediziner warnen dennoch vor einem "Schnellschuss" bei der Ausgestaltung des Konzepts, das den Aufbau ambulanter Palliativ-Care-Teams (PCT) vorsieht.

Ärzte sehen alle Akteure in der Pflicht

Notwendig sei, dass die SAPV integrativ eingeführt werde, sagte etwa der Göttinger Professor Friedemann Nauck in Berlin. Alle Akteure im Gesundheitswesen müssten dabei zusammenarbeiten. Aufgabe der PCTs sei, die anderen Berufsgruppen in der Betreuung zu unterstützen, sich dann wieder zurückzuziehen und bei kritischen Situationen auf Abruf bereitzustehen. Es könne aber nicht darum gehen, die Versorgung komplett zu übernehmen oder übertragen zu bekommen. Nauck warnte davor, dass eine falsche Ausgestaltung des Konzepts dazu führen werde, dass mit der SAPV eine neue Versorgungssäule entsteht. "Dann sollte man das Ganze lieber knicken."

Als Beispiel für eine aus seiner Sicht gescheiterte Einführung eines neuen Versorgungsangebots nannte Nauck die spezialisierte Schmerztherapie. Plötzlich habe sich jeder Arzt zum Schmerztherapeuten erklärt, die Versorgung der Patienten sei dadurch jedoch nicht besser geworden, sagte er. Stattdessen hätten diese nur in einer neuen Versorgungsebene "ihre Runden gedreht".

In diesem Jahr stehen 130 Millionen Euro zur Verfügung

Die Kassen haben sich bislang noch nicht auf eine Rahmenvereinbarung mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Trägern der Pflegeeinrichtungen, Spitzenorganisationen der Hospizarbeit und der Palliativversorgung sowie der KBV einigen können. In diesem Jahr stehen eigentlich 130 Millionen Euro zur Verfügung, 2009 sind es 180 Millionen Euro, 2010 sogar 240 Millionen Euro. Nauck schlug vor, dass die PCTs einen Teil der Gelder an Hausärzte weitergeben, wenn diese sich gemeinsam mit ihnen um Patienten kümmern.

Nach Angaben des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Professor Christof Müller-Busch, sind für eine geeignete, die bestehenden Strukturen unterstützende SAPV-Versorgung etwa 330 PCTs notwendig. Bis zu 70 Prozent der Patienten, die bisher in Krankenhäusern oder stationären Hospizen sterben, könnten ihm zufolge mit einer SAPV ihre letzten Stunden zu Hause verbringen. Bislang liegt diese Marke bei 30 Prozent.

Palliativmedizin soll mehr sein als nur Linderung der Symptome.

Der Chef der AOK Rheinland/Hamburg, Wilfried Jacobs, schlug mit Blick auf ein entsprechendes Modell in Aachen vor, die SAPV zentral über Medizinische Versorgungszentren zu organisieren. An diesen sollen sich alle Leistungserbringer als Betreiber beteiligen, damit auch alle Akteure das Angebot aus Eigeninteresse in Anspruch nehmen. Ziel sei, dass die Leistung zum Patienten gehe, nicht umgekehrt. Allerdings sieht das so mancher offenbar noch anders: So liegen Jacobs 36 Anträge von Krankenhäusern für den Aufbau von Palliativstationen vor.

Der Berliner Palliativmediziner Achim Rieger forderte, dass ethische Kompetenz im Umgang mit Sterbenden Basiswissen jedes Mediziners wird. Palliativmedizin sei "weit mehr als Symptomlinderung", sondern auch das Wissen um die spezifischen Bedürfnisse der Patienten und ihrer Familien. Kritik übte er an den Pflegeheimen. "Das, was ich tagtäglich erlebe, ist, dass die Pflegeheime Angst haben, dass Patienten bei ihnen versterben." Dabei sollten Träger im Gegenteil Werbung damit machen können, dass ihre Bewohner in Würde sterben könnten.

Allzu viel Zeit sollten sich Kassen und Leistungserbringer für ihre Rahmenvereinbarungen allerdings nicht mehr lassen: Offenbar arbeiten die in Eigeninitiative schon bestehenden bundesweit rund 60 PCTs am wirtschaftlichen Limit - darunter auch das von Nauck geleitete Göttinger PCT. Komme es bis zum November zu keiner Einigung, werde sein Team aus finanziellen Gründen die Arbeit einstellen müssen, sagte Nauck. Für 260 000 Menschen würde dieses Versorgungsangebot dann wegfallen.

STICHWORT

Palliativversorgung

Mit der Gesundheitsreform 2007 hat die große Koalition die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SGB V, Paragraf 37 b und 132 d) eingeführt. Danach haben GKV-Versicherte mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei zugleich begrenzter Lebenserwartung Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung - und zwar dann, wenn "eine besonders aufwändige Versorgung" benötigt wird. Die Leistung kann sowohl von einem Vertrags- als auch einem Krankenhausarzt verordnet werden. Die Betreuung erfolgt durch speziell fortgebildete, multiprofessionelle Palliative Care Teams (PCT).

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