Das passende Netz für jeden Sterbenskranken

Die Palliativmedizin muss sich wandeln, meint Heiner Melching vom Klinikum Links der Weser (LDW) in Bremen: Weg von der Spezialdisziplin, hin zu einer alle Abteilungen durchdringenden Haltung. Weg von der Institutionalisierung, hin zum sektorenübergreifenden Dienst am Sterbenden.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Netzbildung ist nötig: Heiner Melching (Ambulanter Palliativdienst des Bremer Klinikums Links der Weser), Elke Ehlert (Palliativstation des LDW).

Netzbildung ist nötig: Heiner Melching (Ambulanter Palliativdienst des Bremer Klinikums Links der Weser), Elke Ehlert (Palliativstation des LDW).

© Foto: cben

Oft erst mit dem Selbstverständnis als Spezialdisziplin tauchen die Missverständnisse zwischen den Sektoren wie Palliativstation, Hospiz und ambulanter Versorgung auf. Im Klinikum Links der Weser heißt es deshalb: "Wir knüpfen für jeden Patienten das passende Netz." Das sagte Heiner Melching beim Palliativkongress in Bremen. Titel seines Workshops: "Netzwerkbildung in der Palliativmedizin - stationäre, stationsübergreifende und ambulante Palliativversorgung".

Seelsorger oder Skatbruder: alle sind Teil der Versorgung

"Die Palliativmedizin ist vor allem eine Haltung", so Melching. Sie drückt sich etwa darin aus, wie die Versorgung der Patienten in Bremen begonnen wird. Ein Genogramm, also eine Skizze des Patienten inmitten seiner sozialen Bezüge aus Enkeln und Ehepartner, Pflegern, Ärzten, Seelsorger oder Skatbrüdern, hilft den Patienten dabei, aufzuzeigen, wer unterstützen könnte - alle können Teil der Versorgung werden.

"Viele Patienten glaubten, ganz allein zu sein - und hatten doch viele Bezüge", berichtete Elke Ehlert von der Palliativstation des LDW. Dann versuchen die Fachleute, im Gespräch herauszufinden, was der Patient braucht und wünscht und wie Klinik, Hospiz, Hausarzt, Familie und Pflegedienst zusammenwirken können. Ein Beispiel: "Frau K". Die 48-Jährige mit Kehlkopfkrebs lebt im dritten Stock eines Mietshauses. Wegen Entfernung des Kehlkopfes kann sie nicht mehr sprechen. Sie hat Angst und Schmerzen. Sie leidet unter Übelkeit, Durchfällen und Verschleimung ihrer Atemwege. Ernährt wird sie über eine Magensonde.

Und: Sie will unter allen Umständen zuhause sterben. Trotz allem eine typische Klinikpatientin? "Die Betreuung zuhause, Symptomlinderung und die Verständigung haben wir gemeinsam als Ziele festgelegt", berichtet Elke Ehlert, "und dann haben wir geschaut, was wir tun können." Am Schluss habe man "mit Kampf und Mühen" von der Kasse einen Sprachcomputer mit Telefon bezahlt bekommen. Die Patientin konnte sich also wieder verständigen. Das Amt für soziale Dienste zahlte zwei Mal die Woche eine Haushaltshilfe. Zwei Freundinnen der Patientin blieben im Wechsel über Nacht, um die Angst der Kranken zu lindern. "Wir hatten Bauchschmerzen mit der Lösung", sagt Ehlert, "aber es ist gut gegangen." Möglich werden solche Lösungen unter anderem durch den palliativmedizinischen Liaisondienst (PML) am LDW. Er verbindet stationäre, überstationäre und ambulante Hilfen.

Was bleibt: Jeden Einzelfall bei den Kassen durchsetzen.

Das Palliativteam versorgt Todkranke auch auf anderen Stationen konsiliarisch mit - gemeinsam mit den dortigen Stationsärzten und -schwestern. Bei nicht einwilligungsfähigen Menschen etwa aus einem Heim bringt das Team Heim, Angehörige und Hausarzt zusammen, um über die Versorgung zu beraten. Betroffene und Angehörige werden in die Therapie so eingebunden, dass sie selbstständig handeln können. Bei der Entlassung legt der PML-Dienst idealerweise gemeinsam mit dem Hausarzt fest, ob eine ambulante Weiter- oder Mitbehandlung notwendig ist, und wenn ja, welche. Noch gibt in der Hansestadt keinen Vertrag zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV).

Kassen zeigen beim Thema SAPV keine Bewegung

Das Palliativ-Team des LDW, eine Bremer Schmerztherapie-Praxis samt Pflegedienst und das Ärztenetz Bremen Nord sind mit einem Konzept an die Kassen herangetreten. Ein Konzept, bei dem Hausärzte als vertraute Begleiter der Patienten einbezogen werden müssen, wie Hausarzt Dietmar Heupel vom Ärztenetz Bremen Nord sagte. Aber: "Die Kassen halten sich bisher völlig bedeckt", so Melching. Bis das Geld fließt, kommt Unterstützung vom Förderverein der Station. "Oder man muss", sagte eine Teilnehmerin des Workshops, "mit einem Rechtsanwalt jeden Einzelfall bei den Kassen durchsetzen."

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