Aktive Sterbehilfe

Niederlande verzeichnet Nachfrage-Boom

Tötung auf Verlangen durch Ärzte ist in den Niederlanden seit 2002 legal. Rund 6100 Menschen wählten im Vorjahr den Tod auf Bestellung. Und es wächst der Druck, die Gesetzesvorgaben noch weiter zu fassen.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Dem nierderländischen Bericht zufolge bedeuten die 6092 gemeldeten Fälle an aktiver Sterbehilfe eine Steigerung um zehn Prozent im Vergleich zu 2015.

Dem nierderländischen Bericht zufolge bedeuten die 6092 gemeldeten Fälle an aktiver Sterbehilfe eine Steigerung um zehn Prozent im Vergleich zu 2015.

© Gaetan Bally/dpa; Grafik Ärzte Zeitung

DEN HAAG. Vier Prozent der Menschen, die im vergangenen Jahr in den Niederlanden gestorben sind, wurden legal im Rahmen des dortigen Sterbehilfegesetzes getötet. Das geht aus dem Bericht der staatlichen Kontrollkommission für das Jahr 2016 hervor (wir berichteten kurz).

Die 6091 gemeldeten Fälle bedeuten eine Steigerung um zehn Prozent im Vergleich zu 2015. 5856 Menschen (96 Prozent) wurden von Ärzten auf Verlangen getötet, 216 mal haben Ärzte Hilfe bei der Selbsttötung geleistet, in 19 Fällen habe es sich um eine "Kombination" beider Konstellationen gehandelt, heißt es im Bericht.

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Unter den Indikationen, die von Ärzten gemeldet wurden, dominieren Krebserkrankungen (4137) vor Erkrankungen des Nervensystems (411). Genannt werden im Bericht Parkinson, Multiple Sklerose und ALS. Weitere häufig genannte Gründe waren Herz- und Gefäßerkrankungen (315) sowie Lungenerkrankungen (214).

Bei 141 Menschen war eine Demenz die Grundlage für die Meldung des Arztes (2015: 106). In dem Bericht der Kontrollkommission heißt es, in der überwiegenden Zahl habe es sich um Patienten in der Frühphase der Erkrankung gehandelt, in der sie noch "Einblick in ihre Krankheit" gehabt hätten. In mehreren Fällen sind jedoch auch Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz getötet worden.

Insgesamt haben die Kontrollbehörden im Vorjahr jedoch nur in zehn der 6091 Fälle das Vorgehen der Ärzte beanstandet, weil eines oder mehrere der gesetzlich vorgeschriebenen "Sorgfaltskriterien" nicht beachtet worden seien. In 60 Fällen war die vom Arzt gemeldete Hauptdiagnose eine psychiatrische Erkrankung, 2015 hat es 56 solcher Meldungen gegeben.

In 85 Prozent der Fälle wurden die Tötungen auf Verlangen von Hausärzten vorgenommen (5167). 215 Mal war ein Geriater beteiligt. Überdurchschnittlich häufig waren Ärzte, die für die "Stiftung Lebensende-Klinik" (Stichting Levenseindekliniek, SLK) arbeiten, an ethisch besonders strittigen Fällen involviert.

Auf dieses Netzwerk von Ärzten und Pflegekräften gingen im Vorjahr 487 Meldungen von Tötungen auf Verlangen zurück – ein starker Anstieg im Vergleich zu 2015 (plus 33 Prozent). Die Stiftung ist 2012 von der Sterbehilfeorganisation NVVE (Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde) gegründet worden, um – so die Selbstbeschreibung – Menschen mit Suizidwunsch dann zu helfen, wenn der behandelnde Arzt dies verweigert. Tatsächlich stammten 37 der 60 Meldungen über Tötungen von psychiatrisch erkrankten Patienten von Ärzten, die für die Stiftung arbeiten. Auch jeder dritte Fall von Sterbehilfe bei Demenzkranken geht auf einen SLK-Arzt zurück.

Diese Entwicklung spiegelt sich in der gesellschaftlichen Debatte über Sterbehilfe in den Niederlanden wider. Sterbehilfeorganisationen fordern, den Rechtsrahmen auszuweiten, und zwar auf Menschen, die ihr Leben als "abgeschlossen" ("Voltooid leven") begreifen. Denn das Gesetz erlaubt aktive Sterbehilfe bislang allein im Falle eines "unerträglichen Leidens ohne Hoffnung auf Besserung".

Wie also umgehen mit "lebensmüden" Menschen, die aber nicht terminal erkrankt sind? In einem Schreiben an das niederländische Parlament haben Gesundheitsministerin Edith Schippers und – der inzwischen zurückgetretene – Justizminister Ard van der Steur im Oktober 2016 die Position der Regierung klargestellt.

Es sei keine Gesetzesänderung nötig, da Menschen, die ihr Leben als "abgeschlossen" ansehen und zugleich unter mehreren altersbedingten Erkrankungen leiden, ohnehin vom geltenden Sterbehilfegesetz erfasst seien. Ausdrücklich ermuntern die beiden Minister dazu, die "Reichweite dieser Regelung voll zu nutzen".

Beide plädieren dafür, das geltende Gesetz nicht auszuweiten. Stattdessen müsse diskutiert werden, ob ein völlig neuer Rechtsrahmen nötig ist, der auch gesunden Menschen die Möglichkeit für einen – staatlich flankierten – assistierten Suizid eröffnet.

Sterbehilfegesetz in Kürze

» Das Gesetz "über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung" ist in den Niederlanden am 1. April 2002 in Kraft getreten.

» Bis Ende 2016 wurden – auf Basis der an die Kontrollkommissionen gemeldeten Fälle – knapp 49.000 Menschen entweder auf Verlangen getötet oder es wurde Assistenz bei der Selbsttötung geleistet.

» Ärzte sind nicht verpflichtet, sich an aktiver Sterbehilfe zu beteiligen. Straffrei bleibt eine Tötung auf Verlangen nur, wenn der Arzt gesetzlich vorgegebene Sorgfaltskriterien beachtet.

» Die Jahresberichte der staatlichen Kontrollkommissionen bis einschließlich 2015 sind in englischer Sprache online verfügbar: http://tinyurl.com/lg6lvq6

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Sterbehilfe in den Niederlanden: Kalte Normalität

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