Beim Thema Organspende sehen Experten vor allem die Krankenhäuser in der Pflicht

Die Wartelisten für Spenderorgane werden länger und länger. Experten nehmen die Kliniken in die Verantwortung. Längst nicht überall wird offen mit Angehörigen über Organspende gesprochen. Und nicht alle Kliniken melden zuverlässig potenzielle Spender.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Mangelware: Allein in Deutschland warten rund 12 000 Menschen auf ein Spenderorgan.

Mangelware: Allein in Deutschland warten rund 12 000 Menschen auf ein Spenderorgan.

© Foto: imago

BERLIN. Ein tragischer Unfall vor 13 Jahren änderte das Leben von Sandy Sollan von einem Tag auf den anderen. Ihr eineinhalb Jahre alter Sohn stürzte aus dem Fenster - aus dem achten Stock. Mit schweren Verletzungen wurde der Junge ins Krankenhaus gebracht. Alle Bemühungen der Ärzte, das Leben des Kleinen zu retten, waren vergeblich - zwei Tage nach dem Fenstersturz stellten sie den Hirntod des Jungen fest.

"Über Organspende hatten wir uns zuvor noch nie Gedanken gemacht", erinnert sich die 35-Jährige. "Doch in der Zeit des Hoffens und Bangens im Krankenhaus haben wir in der Familie besprochen, wie es weitergeht, wenn mein Sohn es nicht schafft." Als klar gewesen sei, dass keine Hoffnung mehr bestand, habe sich die Familie für eine Organspende entschieden. "Damit wollten wir dem Tod unseres Kindes etwas Sinnlosigkeit nehmen", sagt Sandy Sollan. Eines aber verwundert sie bis heute: Dass kein Arzt im Krankenhaus danach gefragt habe, ob eine Organspende für die Familie in Frage kommt. "Wir mussten das Thema gegenüber dem Arzt ansprechen."

Klinikmitarbeiter werden für Organspende sensibilisiert

Glaubt man dem Medizinischen Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), Professor Günter Kirste, dann ist die geschilderte Sprachlosigkeit kein Einzelfall. Viele Ärzte, insbesondere auf Intensivstationen, würden die Möglichkeit der Organspende nicht von sich aus ansprechen. Oft fehle es an Zeit, mit den Angehörigen darüber zu sprechen. Manchmal mangele es aber auch an Kenntnissen darüber, wie sich das Thema menschlich und rechtlich darstellt.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und die DSO haben sich deshalb im Juli 2009 auf neue Leitlinien für eine engere Zusammenarbeit im Bereich der Organspende geeinigt. In Inhouse-Schulungen sollen Ärzte und Pflegekräfte für den hohen Stellenwert der Organspende sensibilisiert und offene Fragen ausgeräumt werden. "Wir können es nicht länger akzeptieren, dass in jedem Jahr über tausend Menschen sterben, weil für sie kein Organ für eine rechtzeitige Transplantation zur Verfügung steht", sagt Dr. Thomas Beck, Kaufmännischer Vorstand bei der DSO. Deshalb müssten alle Beteiligten noch konsequenter als bisher zusammenarbeiten, um die Wartelisten auf ein neues Organ zu verkürzen.

Allein in Deutschland warten laut DSO jährlich rund 12 000 Patienten auf ein neues Herz, eine neue Niere, eine neue Leber. Umgekehrt stehen aber nur etwa 4000 Organe zur Verfügung. In den Staaten der Europäischen Union sind es derzeit rund 63 000 Patienten, deren Namen auf den Wartelisten für ein neues Organ notiert sind.

Viele überleben das Warten nicht. "Pro Tag sterben in Europa etwa zwölf Menschen, weil für sie kein Transplantat gefunden wurde", sagt DSO-Vorstand Kirste. Da komme schnell eine Kleinstadt zusammen, deren Bewohner deshalb sterben, weil nicht genügend lebenswichtige Organe gespendet werden. Besonders paradox dabei: Eine Mehrheit der Deutschen befürwortet die Organspende. Aber nur 17 Prozent tragen einen Spenderausweis bei sich und signalisieren damit ihre Zustimmung zu einer Organentnahme im Todesfalle.

Für den Ärztlichen Direktor des Deutschen Herzzentrums in Berlin, Professor Roland Hetzer, hat der Mangel an Spenderorganen in Deutschland inzwischen einen besorgniserregenden Stand erreicht. Trotz des 1997 verabschiedeten Transplantationsgesetzes (TPG) sei die Zahl der Organspenden Jahr für Jahr zurückgegangen. Besonders drastisch stelle sich die Situation bei Herzen dar. Mitte der 1990er Jahre seien bundesweit zwischen 500 und 600 Herztransplantationen vorgenommen worden. Seit Anfang 2008 bis heute seien nur noch rund 350 Herzen verpflanzt worden. "Dies ist eine betrübliche Situation, zumal die Zahl der Patienten, die für eine Herztransplantation vorgestellt werden, ständig steigt", betont Hetzer.

Widerspruchslösung statt Zustimmungslösung?

Der Herzspezialist spricht sich deshalb dafür aus, die mit dem Transplantationsgesetz eingeführte Zustimmungslösung, bei der sich ein Mensch zu Lebzeiten für eine Organspende entscheiden muss, in eine Widerspruchslösung umzuwandeln, bei der von einem grundsätzlichen Einverständnis zur Organspende ausgegangen wird - es sei denn, der Patient hat sich zuvor anders geäußert. Angehörige haben hierbei ein Vetorecht. In Ländern, in denen das Widerspruchsprinzip gelte - Spanien oder Österreich etwa - stünden drei Mal mehr Organe zur Verfügung als in Deutschland. In Deutschland heiße es immer, die Widerspruchslösung könne nicht umgesetzt werden. "Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, warum", sagt Hetzer. Er selber halte die Widerspruchslösung für eine "moderne, menschliche sowie zukunftsorientierte und für die schwer kranken Menschen entscheidende Lösung".

Hetzer will aber auch die Kliniken stärker in die Pflicht nehmen. Längst nicht alle Häuser würden bislang die für eine Organspende potenziell in Frage kommenden hirntoten Patienten melden. "Das hängt damit zusammen, dass das Transplantationsgesetz ein Bundesgesetz ist, die Umsetzung aber in einem föderalen System wie in Deutschland Ländersache ist", sagt Hetzer.

In der Konsequenz bedeute dies: Ein Bundesland bemühe sich mehr als das andere, die Krankenhäuser zur Meldung hirntoter Patienten zu motivieren. In Spanien hingegen - wo im weltweiten Vergleich noch immer die meisten Organe gespendet werden - habe die Regierung das Thema "zentral geregelt" und in allen Kliniken Transplantationsbeauftragte eingesetzt. Die seien unabhängig vom jeweiligen Krankenhaus und würden für ihre Arbeit entsprechend bezahlt.

Intensivstationen stehen besonders in der Pflicht

Der Hauptgeschäftsführer der Krankenhausgesellschaft, Georg Baum, will den Vorwurf, Deutschlands Kliniken würden sich in Sachen Organspende nicht genug engagieren, so nicht stehen lassen. "Es ist allen bekannt, dass sich nicht jedes Krankenhaus aufgrund seines Versorgungsauftrages, seiner Einrichtung und seines Patientenspektrums gleich intensiv für die Organspende einsetzen kann." Insgesamt hätten die Kliniken - allen voran Uniklinika und Häuser mit Intensivstationen - ihre Zusammenarbeit mit der DSO kontinuierlich verbessert. Für Baum sind daher die Kostenträger am Zug. "Im Sinne der Patienten wäre es hilfreich, wenn die Kassen für eine Verbesserung der Infrastruktur für die Organspende gewonnen werden könnten."

Globaler Mangel an Spenderorganen

Trotz internationaler Fortschritte in der Transplantationsmedizin werden die Wartelisten auf Spenderorgane weltweit immer länger. Zwar wurden nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) innerhalb der Europäischen Union im vergangenen Jahr knapp 28 000 Organe verpflanzt. Trotzdem stehen immer noch 63 283 Patienten auf den Wartelisten. 3812 Patienten sind während ihrer Wartezeit gestorben. Nicht viel besser stellt sich die Situation in den USA dar. Hier kamen 2008 beinahe doppelt so viele Menschen neu auf die Warteliste wie mit einer Transplantation geholfen werden konnte. Insgesamt warten in den USA derzeit 110 000 Menschen auf ein Spenderorgan.

Innerhalb Europas befindet sich Deutschland mit 14,6 Spendern pro eine Million Einwohnern im unteren Mittelfeld und damit unter EU-Durchschnitt von 16,1 Spendern. Spanien ist mit über 34 Spendern Weltmeister in der Organspende, gefolgt von Portugal (26,7). (hom)

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