Urteil erwartet

Der Arzt mit zwei Gesichtern

Die Plädoyers im Gynäkologen-Prozess sind gesprochen. Die Anklage fordert vier Jahre Haft für den Angeklagten. Am Montag wird das Urteil erwartet - über den "Arzt mit zwei Gesichtern".

Von Ingeborg Bördlein Veröffentlicht:
Pixel und Krawatte: Der angeklagte Gynäkologe vor Gericht.

Pixel und Krawatte: Der angeklagte Gynäkologe vor Gericht.

© Daniel Reinhardt/dpa

FRANKENTHAL. Im Prozess gegen den 58-jährigen Frauenarzt , der über Jahre heimlich 36.000 Intimfotos und 62 Videos während der Untersuchung seiner Patientinnen angefertigt hat, wurden am Mittwoch die Plädoyers gehalten.

Staatsanwältin Anne Wolf plädierte, wie bereits kurz in der App-Ausgabe berichtet, für eine Gesamtstrafe von vier Jahren und ein zweijähriges Berufsverbot für den Gynäkologen wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches seiner Patientinnen durch Bildaufnahmen in 1463 Fällen und sexuellen Missbrauchs in elf Fällen sowie Verstoßes gegen das Waffengesetz. Die Verteidigung plädierte dagegen auf zwei Jahre mit Bewährung.

Während die Staatsanwältin sprach, saß ihr der Angeklagte mit gesenktem Kopf gegenüber, das Gesicht von den Händen verborgen.

Die Bild- und Videoaufnahmen, die er nach 20-jähriger Praxistätigkeit ab März 2008 von seinen Patientinnen während der Untersuchung angefertigt habe, so die Staatsanwältin, habe er gestanden und als Motiv "Macht und Kontrollausübung" über die Patientinnen durch den Bildbesitz angegeben.

Sexueller Missbrauch in elf Fällen?

Zunächst habe er eine Auswahl der Frauen nach Kriterien wie Attraktivität und Alter getroffen, die er während der gynäkologischen Untersuchung ablichtete, später habe er wahllos Fotos geschossen.

Die Frauen seien ihm auf dem waagrecht gestellten Behandlungsstuhl völlig ausgeliefert gewesen. Er habe ihr Vertrauen in ihn missbraucht. Somit handle es sich um eine schwerwiegende Verletzung der Intimsphäre der Frauen.

In weiteren elf Fällen geht die Staatsanwältin von sexuellem Missbrauch aus. Kernfrage, die sich durch den gesamten Prozess zog, war: Handelte es sich bei den Videoaufnahmen um sexuellen Missbrauch oder waren die Untersuchungstechniken medizinisch vertretbar?

Nach Überzeugung der Staatsanwältin seien die manuellen und vaginalsonografischen Untersuchungstechniken und -frequenzen nicht allein medizinisch indiziert, sondern wurden zur sexuellen Erregung des Arztes durchgeführt.

Auch vom gynäkologischen Sachverständigen Professor Peter Brockerhoff aus Mainz sei das Procedere als "im Grenzbereich" des medizinisch Notwendigen, in drei Fällen als " grenzüberschreitend" und in einem Fall als "fachlich nicht nachvollziehbar" angesehen worden.

Der Angeklagte selbst, so die Staatsanwältin, habe eine ambivalente Motivation eingeräumt. So habe er das Videomaterial als Masturbationshilfe verwenden wollen. Ihr Resümee: Es sei ein Motiviationsbündel aus Machtempfinden, Voyeurismus und Fetischismus gewesen, was den Arzt in seiner Bildersammelwut getrieben habe.

Bei allen Handlungen - auch dem Anfertigen der Fotos - habe die sexuelle Motivation im Vordergrund gestanden. Somit sieht sie sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs- und Behandlungsverhältnisses nach §174c in elf Fällen als erwiesen an.

Störungen in der Sexualpräferenz?

Eine verminderte Schuldfähigkeit aufgrund schwerer psychischer Störungen scheide aus. So habe der psychiatrische Gutachter, Professor Harald Dressing aus Mannheim dem Angeklagten zwar Störungen in der Sexualpräferenz wie Fetischismus, Voyeurismus und Sadomasochismus attestiert, jedoch eine Schuldunfähigkeit verneint.

Die Vertreter der Nebenklägerinnen schlossen sich den Forderungen der Staatsanwältin an, forderten darüber hinaus aber ein lebenslanges Berufsverbot für den Arzt. Sie begründeten dies mit dem Leid, das er seinen Patientinnen zugefügt habe.

Jede der Frauen fühle sich sexuell missbraucht, viele seien traumatisiert, befänden sich noch heute in psychotherapeutischer Behandlung und hätten jegliches Vertrauen in männliche Frauenärzte verloren. Damit habe er einem gesamten Berufsstand geschadet.

Anwalt Friedrich Willand aus Schifferstadt sprach "von dem Arzt mit zwei Gesichtern": Auf der einen Seite ein beliebter und angesehener Arzt, dessen medizinische Kompetenz und Menschlichkeit von den Patientinnen jahrelang geschätzt wurde.

Dahinter seine dunkle Seite und der unentschuldbare jahrelange Vertrauensbruch. Die Entschuldigung an seine Patientinnen sei unglaubwürdig und zu spät gekommen und die Wiedergutmachungsleistungen unzureichend gewesen.

Die Verteidigung schilderte einen seelisch kaputten Mann, "der sein Leben an die Wand gefahren hat". Er leide nicht zuletzt aufgrund von Missbrauchserfahrungen in seiner Kindheit unter psychischen Störungen, die auch vom Sachverständigen bestätigt worden seien.

Wie erheblich war die Pflichtverletzung?

Mit zwei stationären und fortdauernder ambulanter Psychotherapie habe er Krankheitseinsicht gewonnen und sich für das, was er seinen Patientinnen angetan habe, entschuldigt. Er werde nie mehr als Arzt tätig sein.

Ein erneuter Beweisantrag auf eine verminderte Steuerungsfähigkeit des Arztes aufgrund einer krankhaften Paraphilie war vom Gericht abgelehnt worden. So widmete sich Verteidiger Götz Stuckensen ausführlich der strittigen Frage der medizinischen Indikation und Durchführung der in den Videos festgehaltenen Untersuchungen.

Man könne darüber streiten, wie viele Male die Ultraschallsonde ein und wieder ausgeführt werde und welche Fingerstellung lege artis sei. Auch der Sachverständige sei hier nicht zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen. Gebe es also Zweifel, so müsse pro reo entschieden werden.

Letztlich müsse man alle übrigen 35.000 Bildern und 50 nicht begutachteten Videos überprüfen, ob es sich um eine missbräuchliche Handlung gehandelt habe. Außerdem sei der Tatbestand des Paragrafen 174 c nur dann gegeben, wenn die sexuelle Handlung im Zusammenhang mit einer körperlichen Krankheit durchgeführt worden sei.

Im Falle der strittigen Bilder habe es sich aber zum Teil um Kontroll- und Vorsorgeuntersuchungen von gesunden Frauen gehandelt. Schließlich gelte es, die Frage der Erheblichkeit und einer Pflichtverletzung des Arztes abzuwägen.

Eine solche habe sich der Arzt nicht zuschulden kommen lassen. Er habe seinen Patientinnen keine körperlichen Schmerzen zugefügt und sei weiterhin um Wiedergutmachung bemüht. Eine Bewährungsstrafe sei deshalb angemessen. Das Urteil wird am Montag verkündet.

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