Kommentar zum Urtei

Moralisch fragwürdig, strafrechtlich nicht relevant

Von Heidi Niemann Veröffentlicht:

Für regelmäßige Prozessbeobachter kommt der Freispruch des Landgerichts Göttingen nicht überraschend. Schon seit längerem hatte sich abgezeichnet, dass die Kammer Zweifel hegt, ob die im Zuge der Ermittlungen zum Transplantationsskandal aufgedeckten Verstöße auch strafrechtlich geahndet werden können.

Das Gericht ist zu dem Schluss gekommen: Die Manipulation von Patientendaten war unzweifelhaft moralisch verwerflich. Es gab zu der Zeit aber keinen Paragrafen, der dies unter Strafe stellt. Diese rechtliche Lücke ist inzwischen mit der Änderung des Transplantationsgesetzes geschlossen.

Das Gericht hat mit seinem Urteil aber auch für einen Paukenschlag gesorgt. Die Richtlinien der Bundesärztekammer seien verfassungswidrig, außerdem dürfe nur der Gesetzgeber solche weitreichenden Fragen regeln, moniert die Göttinger Kammer. Damit dürfte sich die schon länger schwelende Diskussion um die Rolle der Bundesärztekammer weiter aufheizen. Hier sollten schnell klare Verhältnisse geschaffen werden, die sich vor allem an den Interessen der Patienten orientieren.

Diese standen in dem Prozess eher selten im Vordergrund. Immer wieder kam es zu hitzigen Gefechten zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung, immer wieder gab es unwürdige Szenen, die dem Ernst des Themas nicht angemessen waren.

So berichtete Opferanwalt Steffen Hörning, der die Witwe und die Töchter eines verstorbenen Patienten vertritt, was seine Mandantin ihm einmal ins Ohr geflüstert hatte: "Ich verstehe gar nicht, hier geht es doch auch um Menschen, die verstorben sind, warum grinsen die denn die ganze Zeit?"

Die Nebenkläger wollen nicht in die Revision gehen. Sie wollen sich nicht noch einmal einem solchen Verfahren aussetzen.

Auf der Anklagebank saß nicht nur der Chirurg, angeklagt war indirekt auch ein System. Ein System, das es selbstherrlich agierenden Chefärzten ermöglichte, nach eigenem Gutdünken und eigenen Regeln zu handeln, ohne sich von irgendjemandem reinreden zu lassen.

Die Universitätsmedizin Göttingen hat später nachgebessert und diverse Regeln geschaffen, um solchen Eigenmächtigkeiten einen Riegel vorzuschieben. Es wäre wünschenswert, wenn auch andere Kliniken ihre Strukturen überprüfen würden.

Das Gericht hat den Chirurgen freigesprochen, weil nicht alles, was moralisch und ethisch fragwürdig ist, auch strafrechtlich relevant ist. Der Prozess hat vor allem eines gezeigt: Mit den Kategorien des Strafrechts ist solchem Verhalten offenbar nur begrenzt beizukommen.

Lesen Sie dazu auch: Prozess in Göttingen: Freispruch für Transplantationschirurgen

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 07.05.201511:34 Uhr

Göttinger Freispruch 2. Klasse?

Wenn ein Gericht zu dem Schluss kommen muss, dass Manipulationen von Patientendaten zweifellos moralisch verwerflich sind, es aber im Strafgesetzbuch (StGB) keine Paragrafen gibt, die dieses unter Strafe stellen, fragt man sich unwillkürlich, warum denn die Staatsanwaltschaft dann nicht v o r h e r jemanden gefragt hat, der sich mit den juristischen Fallstricken des Arztrechts auskennt?.

Auch wenn diese rechtliche Lücke inzwischen mit der Änderung des Transplantationsgesetzes geschlossen wurde, kann ein Staatsanwalt doch nur ermitteln, wenn zum Tatzeitpunkt eine tatsächliche Strafbarkeit vorgelegen hat. Dass die Bundesärztekammer (BÄK) keinerlei Gesetzgebungsbefugnis hat, weiß doch mittlerweile jedes Kind.

"Nulla poena/nullum crimen sine lege" (keine Strafe ohne Gesetz, kein Verbrechen ohne Gesetz)

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund.

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