HINTERGRUND
Ein Präventionsprojekt zeigt: Pädophile können lernen, ihre sexuellen Neigungen besser zu kontrollieren
15 000 Mal pro Jahr werden in Deutschland sexuelle Übergriffe auf Kinder angezeigt - doch die Dunkelziffer wird auf das Vierfache geschätzt. Vermutlich ließen sich viele dieser Übergriffe verhindern, wenn man potenzielle Täter rechtzeitig behandeln würde. Davon ist Professor Klaus M. Beier von der Charité in Berlin überzeugt. Mit dem "Präventionsprojekt Dunkelfeld" hat sein Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin nachgewiesen, dass es pädophil veranlagte Männer gibt, die eigenmotiviert (ohne Druck der Justiz) durch eine Therapie ihre Neigung besser beherrschen können.
Beier schätzt, dass etwa einer von hundert Männern pädophil veranlagt ist, eine derartige Neigung bestehe ein Leben lang. Mithilfe einer breit angelegten Kampagne begann sein Institut vor zwei Jahren, diese Männer direkt anzusprechen: "Lieben Sie Kinder mehr, als Ihnen lieb ist?", heißt es auf Plakaten, die einen Mann in der U-Bahn zeigen, der gerade ein Kind taxiert. Darunter steht eine Telefonnummer, bei der Betroffene Hilfe finden können. Zudem gab es TV-Spots in Deutschland und deutschsprachigen Nachbarländern. Mit der Kampagne sollten potenzielle Täter für eine präventive Therapie gewonnen werden.
Sexuelle Präferenz kann man nicht ändern, aber das Verhalten
Zwar lässt sich die sexuelle Präferenzstruktur von Menschen und damit auch eine pädophile Neigung nicht ändern, aber eine Verhaltenskontrolle ist erreichbar - es kann also verhindert werden, dass aus Fantasien Taten werden, so Beier. Die Botschaft an die Betroffenen: "Du bist nicht schuld an deinen sexuellen Wünschen, aber du bist verantwortlich für dein sexuelles Verhalten!"
Die Resonanz auf die Kampagne ist überraschend groß: 555 Männer und 2 Frauen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wandten sich zwischen Juni 2005 und Ende Mai 2007 an die Charité und baten um Hilfe. 276 nahmen an klinischen Interviews teil, 220 füllten Fragebögen aus. Anhand der Differenzialdiagnostik können Beier und seine Kollegen die sexuelle Präferenzstruktur genau erfassen und damit auch zwischen Pädophilen und jenen unterscheiden, die sich an Kindern vergreifen, weil sie ihr sexuelles Begehren nicht mit Erwachsenen ausleben können. Schließlich wurden 90 pädophile Männer in das Therapieprogramm aufgenommen. Von diesen haben kürzlich 20 ihre Therapie abgeschlossen, 17 weitere befinden sich noch in Behandlung, und 45 warten derzeit noch auf einen Therapieplatz.
54 Prozent der Pädophilen, die um Hilfe baten, hatten bereits sexuellen Kontakt mit einem Kind gehabt, ebenso viele hatten sich schon einmal erfolglos um eine Therapie bemüht. "Sie wurden oft als Patienten abgelehnt, weil eine pädophile Neigung oft mit Kindesmissbrauch gleichgesetzt wird und Pädophile auf diese Weise diskriminiert werden", so Beier im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Beier wehrt sich gegen die moralische Beurteilung einer sexuellen Präferenz: Die Gleichsetzung von Pädophilie und Kindesmissbrauch sei falsch, weil es Betroffene gibt, die ihr Leben lang ihre Neigung kontrollieren und niemals ein Kind sexuell belästigt haben. "Wenn man diese Menschen kriminalisiert, senkt man die Wahrscheinlichkeit, dass sie präventiv Hilfe in Anspruch nehmen."
Die 20 ausgewählten Probanden nahmen während ihrer gut einjährigen Therapie an 45 Sitzungen mit Gruppen- und Einzeltherapie teil. Die Wartegruppe fungierte als Kontrollgruppe. In den Sitzungen ging es vor allem um kognitive Verzerrungen und Opfer-Empathie. Viele potenzielle Täter glauben, wenn ein Kind sie nach dem Weg fragt, zeigt es damit ein sexuelles Interesse. Diese Wahrnehmungsverzerrungen wurden gerade gerückt und die wirklichen Motive des Kindes gezeigt. Dabei wurden mit speziellen Verfahren unter anderen Opfer-Empathie und kognitive Verzerrung vor und nach der Therapie gemessen.
Nach einem Jahr Therapie hatte die kognitive Verzerrung signifikant abgenommen. Zudem erhöhte sich auch das Mitgefühl mit den Opfern. Dieser Empathie-Anstieg war aber nicht signifikant, was auch mit der noch sehr kleinen Datenbasis zusammenhängen könnte.
Fünf Pädophile entschlossen sich zu Anti-Androgen-Therapie
Ein Teilnehmer ist während der Therapie übergriffig geworden: Er nahm sexuell motivierte Berührungen bei einem Kind vor, brach die Handlungen dann aber selbst ab und nahm dies zum Anlass, zur Erhöhung der Impulskontrolle zusätzlich das Anti-Androgen Cyproteron-Acetat einzunehmen. Außer ihm entschlossen sich vier weitere Patienten im Verlauf der Therapie dazu, Anti-Androgene zur Drosselung ihrer sexuellen Impulse einzunehmen.
Der Erfolg des Projekts löste ein großes Medienecho aus. Beier räumt jedoch ein, dass die erzielten Therapieeffekte anhand einer größeren Stichprobe statistisch abgesichert werden müssen. Doch die Fortführung des Präventionsprojekts ist derzeit fraglich. Der wichtigste Geldgeber, die VW-Stiftung, fordert eine Kofinanzierung durch andere Institutionen, damit das Projekt auch langfristig gesichert ist. Beier hofft, dass dafür erforderliche Spezialambulanzen langfristig durch öffentliche Träger finanziert werden.
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STICHWORT
Präventionsprojekt Dunkelfeld
Name: Präventionsprojekt Dunkelfeld
Ziel: Pädophile zu erreichen und zu behandeln, bevor sie ihren Neigungen nachgeben.
Leitung: Klinikum Charité, Berlin
Teilnehmer: Personen, die befürchten, sexuelle Übergriffe auf Kinder zu begehen, die solche Übergriffe bereits ausgelebt haben, aber (noch) nicht dafür bestraft wurden sowie Männer, die für sexuelle Straftaten an Kindern verurteilt wurden und nach der Verbüßung ihrer Strafe Hilfe suchen, um nicht rückfällig zu werden.
Mittel: Plakat- und TV-Kampagne, klinische Interviews, Fragebogen, Verhaltens- und Arzneitherapie.
Resonanz: 555 Anfragen seit Juni 2005. 90 Personen wurden in ein Therapieprogramm aufgenommen.
Finanzierung: Das Präventionsprojekt Dunkelfeld wird finanziert von der Volkswagen-Stiftung und unterstützt von der Kinderschutzorganisation Stiftung Hänsel und Gretel sowie der Medienagentur scholz and friends.
Infos: www.kein-taeter-werden.de, www.sexualmedizin-charite.de