"Für jedes Organ existieren eigene Krebsätiologien"

Ernährungsempfehlungen zur Prävention von Krebserkrankungen gibt es viele. Wie diese hinsichtlich ihres Erfolgs einzuschätzen sind und welche Mechanismen zugrunde liegen, darüber sprach die "ernährung" mit Professor Dr. Heiner Boeing, dem Leiter der Abteilung Epidemiologie des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke.

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ernährung: Welche allgemeinen Maßnahmen in der Lebensführung können empfohlen werden, um das Krebsrisiko zu beeinflussen?

Prof. Heiner Boeing: Gesicherte Erkenntnisse sind, dass kein oder höchstens moderater Alkoholkonsum und ein stabiles Körpergewicht über Jahre bis Jahrzehnte günstig sind. Wahrscheinlich tragen auch der Konsum von Obst und Gemüse, das Meiden des Konsums größerer Mengen roten Fleischs und Fleischwaren - eine Menge von 60 bis 70 Gramm täglich bedeutet noch kein Risiko - sowie der Verzehr von ballaststoffreichem Getreide zur Krebsprävention bei. Bei diesen Faktoren benötigen wir allerdings noch mehr Studiendaten zur Absicherung der Empfehlungen.

ernährung: Vitamine haben offenbar in der Krebsprävention ein geringeres Potenzial als gedacht. Warum?

Boeing: Essenzielle Nährstoffe, zu denen Vitaminen zählen, benötigt der Organismus für physiologische Funktionen - die Frage ist, ob die mit der Pathophysiologie von Krebs so viel zu tun haben. Offenbar gibt es andere Stoffe und Mechanismen, die für das Krebsgeschehen wichtiger sind als die optimale Funktion, zum Beispiel sekundäre Pflanzenstoffe, die an verschiedenen Enzymsystemen beteiligt sind und bei der Entgiftung eine wichtige Rolle spielen. Für das Krebsgeschehen ist vermutlich eine langfristige Veränderung pathophysiologisch bedeutsamer Stellgrößen von Bedeutung.

ernährung: Die alte Vorstellung, dass Vitamine als Radikalfänger den oxidativen Stress lindern und so Krebs vorbeugen, gilt nicht mehr?

Boeing: Diese Vorstellung hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Es gibt viele langfristig angelegte Interventionsstudien, in denen sich Antioxidanzien als unwirksam für die Krebsprävention erwiesen haben. Essenzielle Nährstoffe sind für die Krebsprävention offenbar von geringerer Bedeutung als Substanzen, die spezifische Mechanismen der Krebsentstehung beeinflussen können.

ernährung: Was ist über diese Mechanismen bekannt?

Boeing: Diskutiert werden je nach Ernährungsfaktor und Organ unterschiedliche Mechanismen. Vieles ist aber auch noch nicht genau geklärt. Bei den Ballaststoffen und dem Darmkrebsrisiko kommen zum Beispiel als Mechanismen die Erhöhung des Stuhlvolumens und der Einfluss auf die Stuhlentleerung infrage, außerdem die Bildung leicht flüchtiger Fettsäuren, die wiederum den Gallensäurenstoffwechsel und apoptotische Prozesse beeinflussen. Bei rotem Fleisch wird die Bedeutung von Häm-Eisen als Katalysator von N-Nitrosoverbindungen im Darmlumen diskutiert, die als Karzinogene bekannt sind. Bei Alkohol könnte der Abbau zum Acetaldehyd das Krebsgeschehen beeinflussen. Über welche Mechanismen Übergewicht das Krebsrisiko erhöht, ist noch weitgehend unklar.

ernährung: Welche Rolle spielt eine fettreiche Ernährung?

Boeing: Die Fettaufnahme ist für die Entstehung der meisten Krebsarten wahrscheinlich nicht entscheidend. Diskutiert wird zurzeit aber, ob eine hohe Zufuhr gesättigter Fettsäuren das Brustkrebsrisiko leicht erhöht. Einige Studien wiesen in diese Richtung, in anderen war das nicht so.

ernährung: Eine mediterrane Ernährung verringert Studien zufolge die Krebsinzidenz und -mortalität. Auf welche Faktoren könnte dies zurückzuführen sein?

Boeing: Die Untersuchung dieser Frage ist zum Beispiel eines der Ziele der europaweiten EPIC-Studie. Zur mediterranen Ernährung zählen beispielsweise Olivenöl und eine obst- und gemüsereiche Ernährung. Es ist jetzt schon deutlich, dass das Potenzial dieser Ernährungsfaktoren gar nicht so groß ist wie in den 80er- und 90er-Jahren vermutet. Dabei ist auch zu klären, ob Risikobeziehungen mit dem Olivenöl selbst bestehen, dessen Begleitstoffen oder den anderen Faktoren des mediterranen Lebensstils.

ernährung: Wirkt sich die Ernährung insbesondere auf das Risiko für Krebsarten im Verdauungstrakt aus - oder gilt das generell für Krebs?

Boeing: Es gibt einige häufig auftretende Karzinome wie Brust- und Prostatakrebs, bei denen wir den Einfluss der Ernährung trotz intensiver Forschung immer noch nicht abschätzen können. Bei Tumoren des Gastrointestinaltraktes sind die Hinweise für Ernährungsfaktoren viel deutlicher, zum Beispiel der Einfluss des Fleisch- und Fischkonsums oder der Ballaststoffzufuhr. Der Alkoholkonsum steht vor allem mit Tumoren des oberen Verdauungstraktes in Verbindung. Bei anderen malignen Tumoren liegen weniger Daten zu Ernährungsfaktoren vor als bei den oben genannten Karzinomen, etwa bei Blasen-, Pankreas- oder Nierentumoren.

Wir müssen uns daran gewöhnen, dass für jedes Organ eigene Krebsätiologien existieren. Die Wirkung und das Stoffwechselgeschehen von Ernährungsfaktoren zum Beispiel im Dickdarm und Magen können wir nicht gleichsetzen mit denen in Organen wie dem Pankreas, bei denen Ernährungsfaktoren metabolisch und nicht direkt wirksam sind.

ernährung: Gibt es für Patienten, die an Krebs erkrankt sind, spezielle Ernährungsempfehlungen?

Boeing: Dieses Feld muss dringend wissenschaftlich bearbeitet werden. Die Ernährungsempfehlungen, die wir Patienten mit einer Krebserkrankung geben, beruhen derzeit überwiegend auf Studien mit Gesunden. Es gelten aufgrund fehlender Daten daher für Krebskranke zunächst die gleichen Regeln wie in der Prävention von Krebserkrankungen. Für solide Ernährungsempfehlungen bei einer Krebserkrankung benötigen wir unbedingt größere Langzeitstudien mit Krebspatienten. Einige Daten dazu gibt es schon aus den USA: Danach scheint sich bei Patientinnen mit Brustkrebs durch eine moderate Absenkung der Fettzufuhr die Überlebenszeit zu verlängern.

ernährung: Sie sind an der bereits seit mehr als 15 Jahre laufenden EPIC-Studie beteiligt, in der in zehn europäischen Ländern der Zusammenhang zwischen Ernährung und Krebs untersucht wird. Erwarten Sie noch neue Erkenntnisse?

Boeing: Ja, natürlich. Wir erhoffen uns einerseits konsistente Ergebnisse zu Ernährungsfaktoren von den verschiedenen weltweit durchgeführten Langzeitstudien einschließlich unserer Studie, aus denen sich weitere Empfehlungen zur Senkung des Krebsrisikos ergeben. Auf der anderen Seite möchten wir die zugrunde liegenden Mechanismen weiter klären. Ein Ziel ist es, dadurch die Prävention stärker auf den Einzelnen zuschneiden zu können. Die Studie wird sicher noch weitere zehn bis 15 Jahre wissenschaftlich ausgewertet werden. Wir werden uns in den nächsten Jahren gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum ganz speziell auch den deutschen Daten widmen. (rf)

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