Viele Schüler haben psychische Probleme

KASSEL (dpa). Als Kathrin, wie sie selbst sagt, "verrückt wurde", spürte sie erst gar nichts. Wie hinter einer Glasscheibe fühlte sich die Schülerin, abgeschnitten, unverstanden. Als der Druck dann in Aggressionen gegen sie selbst umschlug, schien wieder keiner hinzusehen. Was folgte, war fast eine Psychiatriekarriere. Kein Einzelfall: Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen treten nach Ansicht von Experten immer häufiger auf. Mit dem Projekt "Verrückt? Na und!" wollen Psychologen gegensteuern.

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Der ärztliche Direktor der Kasseler Klinik für Kinderpsychiatrie und -psychotherapie, Dr. Günter Paul, betont, dass die Zahl der psychisch kranken Schüler in den vergangenen zehn Jahren um 20 Prozent gestiegen sei. "Damit leiden die Schüler inzwischen öfter an psychischen Störungen als an Infektionskrankheiten."

Kathrin ist heute 33 Jahre alt. Aus der labilen Schülerin ist eine Frau geworden, die ihre Probleme im Griff hat - dank Hilfe. "Man muss zwar das meiste selbst machen, aber ohne Hilfe geht es nicht", sagt sie. Deshalb arbeitet sie beim Projekt "Verrückt? Na und!" mit. In Leipzig ersonnen, wird es derzeit bundesweit erprobt. Zwei Mitarbeiter des Vereins "Irrsinnig menschlich" beispielsweise gehen in Schulklassen: ein Psychologe und ein früherer Patient. Wer wer ist, erfahren die Schüler erst später - um Vorurteilen vorzubeugen.

"Verrückte gibt’s hier nicht!"

Die neunte Klasse in der Kasseler Schule gibt sich betont lässig, besonders die Jungen. "Verrückte gibt‘s hier nicht", sagt einer grinsend, "an anderen Schulen vielleicht". Erst als Manuela Richter-Werling von "Irrsinnig menschlich" nachfragt, gibt es Zweifel. "Wie man’s nimmt", sagt ein Mädchen, "Probleme im Kopf gibt es bestimmt bei vielen". Nach langem Zögern räumen viele ein, schon von psychischen Problemen - natürlich bei anderen - gehört zu haben: Depressionen, "Ausflippen", Selbstmordversuche gar und immer wieder "Ritzen" - der Angriff mit Messern oder Scheren auf den eigenen Körper. "Ein bisschen verrückt ist eben jeder", sagt eine Schülerin.

Eine Vermutung, die Psychiater Paul bestätigt. "Fast alle Menschen kommen mindestens einmal im Leben in eine seelische Krise." Und das oft schon in der Jugend. "Die Belastungen, der Erfolgsdruck werden größer. Wenn dann das Umfeld nur einen kleinen Knacks bekommt, etwa durch die Scheidung der Eltern oder mangelnde Kommunikation mit ihnen, kann das verheerende Folgen haben", sagt der Arzt. "Fälle von Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität, Depressionen und psychosomatischen Problemen wie Essstörungen sind eindeutig mehr geworden."

Das größte Problem sei das Stigma. "Selbst Lehrer sind laut einer Umfrage der Meinung, Leukämie sei ein geringeres Übel als eine Depression. Denn bei Blutkrebs kommt mich jeder besuchen, bei was Seelischem wenden sich alle ab", sagt Richter-Werling. Auch unter den Kasseler Schülern werden lieber verlegen Witze über "die Bekloppten" gerissen - bis Kathrin sich selbst als "so eine" zu erkennen gibt. Sie erzählt von ihren Gefühlen, die viele Schüler kennen, beschreibt die Probleme, die hier jeder auch schon hatte, und nennt Ängste, die keinem unbekannt sind. Als einer einen Witz macht, wofür er kurz zuvor noch für Gelächter gesorgt hatte, erntet er nur vernichtende Blicke von den Mädchen und vielen Jungen.

Schüler müssen sich helfen lassen

"Wir können nicht therapieren, aber wir können helfen", sagt Richter-Werling. Und dabei sei es besonders wichtig, dass sich die Schüler helfen lassen. Niemand möchte seelische Probleme haben, insbesondere in Ausländerfamilien sei das ein Tabu. Nach dem vierstündigen Programm in der Kasseler Schule melden sich dann aber doch ein paar und berichten zaghaft von Problemen. Ganz ist die Angst aber nicht weg: "Nach jeder Veranstaltung", sagt Kathrin, "kommen immer noch ein paar und erzählen von sich. Ganz leise, aber auch ganz dankbar."

Weitere Informationen: www.verrueckt-na-und.de



NEUE KONZEPTE

Schulprojekt "Verrückt? Na und!"

Im Schulprojekt "Verrückt? Na und!" stehen eigene Erfahrungen und Erlebnisse, Neugier, Spannung und Spaß an erster Stelle. Schülerinnen und Schüler setzen sich mit ihrem eigenen Leben auseinander, lernen Menschen kennen, die psychische Krankheit erlebt haben und erfahren, was sie für ihre eigene seelische Gesundheit tun können.

Lehrerinnen und Lehrer werden für ihre eigene psychische Gesundheit und die ihrer Schüler sensibilisiert. Sie erfahren, wie sie sich weiterhin mit dem Thema psychische Gesundheit in der Schule beschäftigen können.

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