Das Pflegenetz könnte schon bald reißen

Der Pflegebedarf steigt und steigt. Die Politik sieht das Land gut gerüstet für die Herausforderung. Experten verneinen das - und nehmen die 22 000 Pflegeanbieter in die Pflicht.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Pflege auf Rädern muss ihre Angebote künftig stärker ausdifferenzieren, fordern die Sachverständigen.

Pflege auf Rädern muss ihre Angebote künftig stärker ausdifferenzieren, fordern die Sachverständigen.

© Foto: dpa

BERLIN. Die anwesenden Journalisten staunten nicht schlecht: Bis 2050 werde die Zahl älterer und pflegebedürftiger Menschen in Deutschland von heute 2,1 auf dann 4,35 Millionen steigen, bekamen sie vom Vorsitzenden des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen, Professor Eberhard Wille, bei der Übergabe eines neuen Gutachtens an Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) in die Blöcke diktiert. Schnell war jedem klar: Auf das vorhandene Pflegenetz in Deutschland, bestehend aus etwa 22 000 ambulanten, stationären und teilstationären Einrichtungen, kommen große Herausforderungen zu.

Glaubt man den sieben Sachverständigen, könnte das scheinbar fest gespannte Netz schnell reißen. Dass die derzeit vorhandenen Kapazitäten ausreichten, um dem zu erwartenden Bedarfszuwachs standzuhalten, müsse jedenfalls angezweifelt werden, sagte Wille. Seine Forderung: "Auch künftig werden die pflegerischen Versorgungsinstitutionen daher weiter auszubauen sein."

Damit allein sei es aber wohl nicht getan, betonte der Gesundheitsweise. Sowohl Pflegedienste als auch Heime müssten sich neu aufstellen. Die ambulante Pflege stehe vor der Aufgabe, ihre Angebote qualitativ weiterzuentwickeln und von der Gesundheitsförderung bis hin zur palliativen Versorgung auszudifferenzieren. Das derzeitige Leistungs- und Angebotsprofil der insgesamt 10 997 Pflegedienste sei "relativ eng" gefasst und werde vielen Problemlagen nicht gerecht. Demenziell und chronisch Erkrankte, Schwerstkranke und Sterbende sowie allein lebende ältere Menschen sowie Migranten stießen noch immer auf erhebliche "Versorgungslücken".

Aber auch die 10 424 stationären und teilstationären Heime müssten ihre Versorgung "nachhaltig" verbessern, sagte Wille. "Dazu benötigen die Heime sowohl eine hinreichende Ausstattung mit qualifiziertem Personal als auch einen Innovationsschub ihrer Leistungsangebote." Pflegeheime würden immer mehr zu Stätten, in denen mehrfach erkrankte und zum Teil schwerstpflegebedürftige Bewohner versorgt werden müssten. Ohne ausreichend viele Pflegeprofis sei diese Aufgabe nicht zu bewältigen. Daneben müssten die Heimträger für eine "dauerhafte ärztliche Präsenz" in ihren Einrichtungen sorgen.

Die Möglichkeit dazu habe der Gesetzgeber den Anbietern mit der Pflegereform geschaffen, sagte Wille. Ob sich das Heim für die Versorgung aller Bewohner "durch den gleichen Arzt" oder für die Betreuung "durch den Arzt des persönlichen Vertrauens" entscheide, hänge von regionalen Besonderheiten und Bedarfssituationen ab und müsse daher von Fall zu Fall entschieden werden.

Lesen Sie dazu auch: "Pflegerische Versorgung ist Daueraufgabe"

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