Mord an Ärzten

Hospitäler als Angriffsziele im syrischen Bürgerkrieg

Ärzte in Syrien leben extrem gefährlich: Sie operieren heimlich Oppositionelle, während Bomben einschlagen und müssen mit einfachsten Mitteln auskommen. Experten haben nun einen Report erstellt, der erstmals die katastrophalen Umstände der Versorgung zeigt.

Alexander JoppichVon Alexander Joppich Veröffentlicht:
Patienten und Ärzte leiden: Grauenhafte Zustände herrschen oft in syrischen Kliniken – auch, wie hier, in Aleppo.

Patienten und Ärzte leiden: Grauenhafte Zustände herrschen oft in syrischen Kliniken – auch, wie hier, in Aleppo.

© EPA/MAYSUN / dpa

Auf den Tag fast genau seit sechs Jahren tobt der Syrien-Konflikt und hinterlässt eine Vielzahl von traumatisierten, verwundeten oder toten Menschen. Die medizinische Versorgung in vielen Teilen des Landes ist extrem defizitär oder ganz zusammengebrochen. Das medizinische Fachmagazin "The Lancet" hat die Versorgungssituation jetzt erstmals in großem Ausmaß analysiert und besonders den Umgang mit medizinischem Personal untersucht – gemeinsam mit der Amerikanischen Universität Beirut (AUB).

Ergebnis: Die syrische Regierung "setzt die medizinische Versorgung als Waffe ein". Durch den gewaltsamen Entzug der Versorgung versuchte das Assad-Regime die Bevölkerung zu kontrollieren. Der Report spricht in diesem Bezug auch von Kriegsverbrechen gegen Gesundheitseinrichtungen in noch nie gekanntem Ausmaß. 2016 gingen 94 Prozent der Angriffe auf medizinische Institutionen auf das Konto der Regierung und seiner Allierten – der Lancet nennt hier explizit Russland.

Der wiederholte Bombenabwurf auf oppositionell besetzte Gebiete zeigt laut Human Rights Watch und Amnesty International, dass das syrische Regime allen Personen in diesen Gebieten Zusammenarbeit mit Terroristen unterstellt – und so Angriffe auf vermeintlich feindliche Ärzte rechtfertigt.

Über 100 Ärzte zu Tode gefoltert

Der Lancet-Bericht spricht von gezielten und wiederholten Angriffen auf die Gesundheitsversorgung. Zwischen März 2011 und September 2016 seien 782 Mitarbeiter im Gesundheitswesen gezielt wegen ihrer Profession getötet worden – darunter 247 Ärzte, 176 Krankenpfleger und 146 Sanitäter. Von diesen Toten seien 723 durch Attacken der Regierung oder ihrer Partner umgebracht worden. So sei das Kafr Zita Cave Hospital, ein Krankenhaus in einer provisorischen Höhle, seit 2014 33 Mal bombardiert worden – alleine sechs Mal in dem noch jungen Jahr 2017. Weiterhin seien 101 Ärzte zu Tode gefoltert worden, 180 gezielt erschossen.

"The Lancet" spricht von einem systematischen Bruch der Genfer Konventionen, die humanitäre Helfer wie Ärzte vor Angriffen schützen soll. "2016 war das gefährlichste Jahr für Beschäftigte im syrischen Gesundheitswesen, das es jemals gab", fasst Dr. Samer Jabbour zusammen. Er arbeitet an der Amerikanischen Universität Beirut und ist einer der Hauptautoren des Berichts.

Die Folgen für das syrische Medizinwesen lassen nicht lange auf sich warten: Die Hälfte der zuvor 30.000 Ärzte hätten das Land bereits verlassen. Während 2010 ein Arzt in Ost-Aleppo 800 Menschen durchschnittlich versorgen musste, sei das Verhältnis jetzt eins zu 7000. Durch die Massenflucht von erfahrenen Ärzten müssten junge Ärzte ohne viel praktische Erfahrung oder sogar Studenten die Lücken füllen. Da die syrische Medizinerausbildung keine spezielle Ausbildung in Traumabewältigung oder Notfallversorgung enthalte, seien die Ärzte oft völlig überfordert mit den Kriegsopfern: "Training on the job" lautet die einzig mögliche Devise. Natürlich schade das auch den Patienten, die nicht adäquat versorgt werden könnten.

Horror-Alltag für Mediziner

Zudem habe sich der Alltag der Versorger radikal verändert, überall herrschten Einschränkungen, Not und Unterdrückung. Beschäftigte müssten arbeiten, während neben ihnen Bomben einschlugen oder gekämpft wird. Die Behandlung von Verletzten in den Kellern von zerstörten Kliniken sei nahezu normal, ebenso dass Ärzte Operationen in Räumen durchführen müssen, die nur mittels des Lichts von Smartphone-Displays beleuchtet werden. Da medizinische Einheiten gezielt attackiert werden, müssten Ärzte die Versorgung dezentralisieren: Damit im Falle eines Angriffs nicht die gesamte Versorgung zerstört wird, seien oftmals beispielsweise OPs von Notaufnahmen räumlich weit getrennt.

Not macht erfinderisch, so der Lancet-Bericht. So sei es Ärzten gelungen, mit Haushaltsmitteln Kochsalzlösungen herzustellen, da diese systematisch aus Hilfskonvois entfernt würden. Aus dem gleichen Grund würden sie Urin- zu Blutbeutel umfunktionieren, nachdem sie gerinnungshemmende Substanzen zugefügt hätten.

Paradoxerweise funktioniere das Gesundheitssystem in IS-Gebieten besser, so der Bericht. In Raqqua dürften Ärzte aber ausschließlich IS-Kämpfer behandelt – für die übrige Bevölkerung (1 Million Menschen) blieben nur 33 Fachärzte.

Harsche Kritik an der WHO

Die Autoren greifen die internationale Gemeinschaft hart an: "Sie hat diese Verletzung der Menschenrechte größtenteils unbeantwortet gelassen", resümiert Dr. Jabbour. Auch die WHO tue viel zu wenig für das Gesundheitspersonal. Er und seine Kollegen fordern eine bessere Dokumentation der Kriegsverbrechen, mehr Spenden und eine Strategie, wie man Angriffe auf medizinische Einrichtungen verhindern kann.

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