Heroin bei Sucht auf Rezept - Kapitulation oder Hilfe?

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

Heroin auf Rezept? Für einen Teil der Bürger ist diese Vorstellung ein Alptraum: Für sie wäre die von den Krankenkassen finanzierte Heroingabe eine Kapitulation vor der Drogensucht und dem Ziel, die etwa 150 000 Heroinabhängigen für Entzugsprogramme zu gewinnen.

Andere sehen in der Heroingabe unter ärztlicher Aufsicht eine Möglichkeit, Schwerstabhängige vor Verelendung und sozialer Isolation zu bewahren, die Beschaffungskriminalität zu senken und über die Anbindung an Drogenambulanzen den Weg für weitere Hilfen zu ebnen.

Noch in diesem Jahr, vermuten Experten, wird in Deutschland eine Entscheidung fallen, ob Ärzte künftig hochreines Heroin verschreiben dürfen. Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte liegt bereits ein entsprechender Eilantrag vor, denn die Substanz müßte als Pharmakon zugelassen werden.

Compliance mit Heroin höher als mit Methadon

Die Zeichen für eine Zulassung stehen günstig. Denn die deutsche Heroinstudie mit mehr als 1000 Suchtkranken hat ergeben, daß langjährig Heroinabhängigen effektiver durch hochreines Heroin geholfen werden konnte, das sie sich unter medizinischer Aufsicht in speziellen ambulanten Einrichtungen injizierten, als durch oral verabreichtes Methadon.

Sowohl die Haltequote - also der Anteil derjenigen, die die Therapie wie geplant zuende führen - war unter der heroingestützten Behandlung höher als unter Methadon, als auch der Anteil derer, die auf Straßenheroin und Raub verzichteten und ihren Gesundheitszustand bessern konnten. Die Ergebnisse der Studie waren bei einem internationalen Symposium des Bundesgesundheitsministeriums über heroingestützte Behandlung in Köln vorgestellt worden.

"Die Substitution, meist mit Methadon, bleibt die Methode der ersten Wahl für die Behandlung von Heroinabhängigen, die einen Drogenentzug nicht oder noch nicht schaffen", stellte Privatdozent Christian Haasen vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" klar.

"Es geht bei der Heroingabe unter ärztlicher Aufsicht darum, Schwerstabhängigen zu helfen, die entweder Programme zur Methadonsubstitution abgebrochen haben oder nach Entzug rückfällig geworden sind und die auf anderen Wegen zunächst nicht zu erreichen sind", sagte Haasen. Das ZIS hat die klinisch-wissenschaftliche Federführung über die randomisierte, kontrollierte Heroin-Studie.

Nach einem Jahr lag in dieser Studie die Haltequote in der Heroingruppe bei 67,2 Prozent, in der Methadongruppe bei 40 Prozent. Unter Heroin hatte sich der gesundheitliche Zustand bei 80 Prozent deutlich gebessert, unter Methadon bei 74 Prozent der Teilnehmer. 69 Prozent in der Heroin- und 55 Prozent in der Methadongruppe gaben an, auf Straßenheroin zu verzichten. Die Unterschiede waren statistisch signifikant.

In der Heroin-Gruppe gab es mehr schwere Nebenwirkungen

In der Heroin-Gruppe traten deutlich mehr schwere unerwünschte Wirkungen auf als unter Methadon (32,7 versus 11,1 Prozent). Dazu gehörten vor allem Atemdepression, Krämpfe und allergische Reaktionen wie Urtikaria und Pruritus. In keinem Fall waren die unerwünschten Wirkungen lebensbedrohlich.

434 Teilnehmer aus der ersten Studienphase nahmen an der zweiten teil, die über weitere zwölf Monate lief: 344 aus der Heroingruppe und 90 Suchtkranke, die von Methadon zu Heroin gewechselt hatten. Die Ansprechrate (verbesserter Gesundheitzustand und Verzicht auf Straßenheroin) blieb - nach vorläufiger Auswertung - in der Heroingruppe mit 70 Prozent stabil, bei jenen, die gewechselt hatten, stieg sie auf dieses Niveau an. Hatten zu Beginn der Studie nur 16 Prozent eine Arbeit, waren es nach zwölf Monaten in beiden Gruppen 27 Prozent und nach zwei Jahren 29 oder 27 Prozent (Heroin-Gruppe oder Methadon-Heroin-Wechsler).

Teilnehmer können noch bis Dezember betreut werden

"Das Studienergebnis belegt, daß ein Teil der Schwerstabhängigen mit einem Methadonprogramm erreicht werden konnte, daß aber die heroingestützte Behandlung einen größeren Anteil ansprach und effektiver war", so Dr. Uwe Verthein vom ZIS. "Die 90 Probanden, die nach einem Jahr von Methadon auf Heroin gewechselt haben, erreichten in den darauf folgenden zwölf Monaten das Niveau der Heroingruppe, deren Zustand sich weiter stabilisiert hatte. Das ist ein sehr ermutigendes Ergebnis." Bis Dezember 2006 können Teilnehmer der Studie wie bisher in den Drogenambulanzen betreut werden.

Wie ein Damoklesschwert hängt das Ende des Modellprojekts über den Probanden. "Die Einstellung des Projektes wäre für mich ein Rückschritt in die Steinzeit, in Depressionen, Illegalität und Krankheiten", so ein Patient, der nicht namentlich genannt werden möchte. "Die Studie muß weitergehen oder das Medikament zugelassen werden."

Lesen Sie dazu auch: So machen es andere Länder Wer Heroin als Medikament produziert, bleibt geheim

Mehr zum Thema

„ÄrzteTag“-Podcast

Was steckt hinter dem Alice-im-Wunderland-Syndrom, Dr. Jürgens?

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Wo lang im Gesundheitswesen? Der SVR Gesundheit und Pflege empfiehlt mehr Richtungspfeile für alle Akteure.

© StefanieBaum / stock.adobe.com

Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege

Gesundheitsweise empfehlen Primärversorgung für alle – und Quotierung der Weiterbildung

„Wenn die Politik Wissenschaftlern sagen würde, wir wollen dieses oder jenes Ergebnis, ist das Propaganda.“ Klaus Überla – hier im Treppenhaus seines Instituts – über Einmischungen aus der Politik.

© Patty Varasano für die Ärzte Zeitung

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer

Dr. Iris Dötsch Fachärztin für Innere Medizin, Diabetologin und Ernährungsmedizinerin hat die Hauptstadtdiabetologinnen, eines neues Netzwerk für Frauen in der Diabetologie, gegründet.

© snyGGG / stock.adobe.com

Hauptstadtdiabetologinnen

Ein Netzwerk für Diabetologinnen