Migräne-Patienten unterschätzen das Risiko häufiger Analgetikaeinnahme

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Bei Dauerkopfschmerz muß nach selbstgekauften Medikamenten gefragt werden

Viele Migräne-Patienten unterschätzen die Gefahr bei chronischer Anwendung von - vor allem selbst gekauften - Analgetika, Dauerkopfschmerzen zu induzieren. Wie wichtig daher die Medikamentenanamnese bei Patienten mit Dauerkopfschmerz ist, erläutert Dr. Dietrich Jungck aus Hamburg bei unserer heutigen Schmerz-Kasuistik.

    Wenn auch Sie eine interessante Kasuistik zum Thema Schmerztherapie haben, schreiben Sie uns Ihren Fall. Oder haben Sie einen besonders kniffligen Schmerzpatienten? Schildern Sie die Problematik! Wir werden sie an unsere Experten weiterleiten.

    Schreiben Sie an: Ärzte Zeitung, Ressort Medizin, Postfach 20 02 51, 63077 Offenbach oder per Email an: med@aerztezeitung.de

    Die aktuelle Situation

    Frau R., 54 Jahre, wird uns von ihrem Hausarzt zur Mitbehandlung wegen "therapieresistenter Migräne" überwiesen. Sie berichtet, seit der Pubertät unter Migräne zu leiden - nach der Anamnese handelte es sich um eine Migräne ohne Aura.

    Früher traten die typischen halbseitigen Anfälle mit Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen, Überempfindlichkeit gegen Licht, Geräusche und Gerüche nur sporadisch auf, sie sind aber mit der Zeit immer häufiger und heftiger geworden. Bei den Anfällen nimmt die Patientin Mischanalgetika ein mit Coffein, Paracetamol und Acetylsalicylsäure. Sie hat mit der Zeit immer mehr nehmen müssen, jetzt braucht sie zwischen acht und zwölf Tabletten pro Tag.

    Den Schmerz, der den ganzen Kopf betrifft, beschreibt sie hauptsächlich als dumpf und drückend. Migränetypische Zeichen, wie sie sie von früher her kennt, sind schon seit einigen Jahren nicht mehr aufgetreten. Die Schmerzintensität schwankt zwischen 4 und 7 auf der 10 cm betragenden visuellen Analogskala. Die Untersuchung ergibt keine körperlichen Befunde, nur eine bekannte chronische Gastritis, gegen die Protonenpumpenhemmer verordnet werden. Frau R. ist etwas übergewichtig, der Blutdruck leicht erhöht.

    • Was ist bisher passiert?

    Bereits vor etwa 14 Jahren sind die sporadischen Migräneschmerzen in Dauerkopfschmerzen übergegangen. Frau R. hat deswegen viele Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen konsultiert, die verschiedenste - zum Teil selbst zu zahlende - Behandlungen versucht haben (etwa Neuraltherapie, Chirotherapie, Spritzen mit Bienengift, Akupunktur, Bachblüten, Betablocker, Calciumantagonisten, Ergotalkaloide).

    Alle Labor-, EEG- und Röntgenuntersuchungen (mehrere CCT- und MRT-Bilder liegen vor) sind dabei ohne Befund gewesen. Wenn sich nach mehr oder weniger langer Zeit keine Besserung zeigte, war eine häufige Erklärung "da müssen Sie mit leben, da kann man nichts weiter tun...".

    Die Stimmung von Frau R. ist daher mit den Jahren immer schlechter geworden, sie hat bei der Arbeit oft gefehlt, ist mehrfach ohne Nutzen zur Kur geschickt worden, schließlich mit 45 Jahren vorzeitig berentet worden, obwohl sie sehr gerne als Schneiderin gearbeitet hat.

    • Was ist nun zu tun?

    Die Schmerzschilderung ist im Zusammenhang mit der Anamnese hinweisend auf Medikamenten-induzierte Dauerkopfschmerzen auf dem Boden einer früheren Migräne ohne Aura. Daher ist eine Entzugsbehandlung indiziert. Nach entsprechender Aufklärung über die Zusammenhänge zwischen der Mischanalgetikaeinnahme und der Schmerzchronifizierung stimmt die Patientin zu - auch unter dem Hinweis auf eine mögliche Schmerzexazerbation und Dysphorie als Entzugserscheinungen.

    Die Entzugsbehandlung beginnen wir mit einem abrupten Absetzen der Mischanalgetika, Umsetzen auf zunächst Novaminsulfon (20 Tropfen alle vier Stunden), Vereinbarung täglicher Gespräche und nonsegmentaler TENS. Die Schmerzverstärkung tritt rund 36 Stunden nach dem Absetzen auf. Sie kann durch vorübergehende Erhöhung der Novaminsulfon-Dosis abgemildert werden.

    Nach vier Tagen lassen die Kopfschmerzen aber spürbar nach. Novaminsulfon wird abgesetzt und nach neun Tagen sind die Schmerzen völlig verschwunden.

    Anfangs haben die intensiven täglichen Gespräche hauptsächlich die Entzugserscheinungen und die Motivationsstärkung zum Inhalt. Später gehen sie immer wieder um persönliche Fragen: Warum mußte sie soviel unnötig leiden? Warum mußte soviel selbst bezahlt werden? Hätte der Beruf nicht erhalten werden können?

    Nach drei Wochen können wir Frau R. aus der intensiven Phase der Behandlung ohne Medikation und ohne TENS-Gerät entlassen, aber mit Ratschlägen für ihre Lebensgestaltung und aufgeklärt über sinnvolle Therapiemaßnahmen bei Kopfschmerzen. Sie bezeichnete ihren Kopf jetzt als "klar". Die Patientin ist auch darüber unterrichtet, daß ihre Migräne ohne Aura sich wieder melden könnte. Wir würden ihr dann Therapieoptionen nennen.

    Die mitgegebenen Kopfschmerzkalender sind bis heute (4 Monate nach Behandlungsbeginn) leer geblieben. Die Patientin äußert sich sehr zufrieden mit dem Verlauf und mit dem Ergebnis der Entzugsbehandlung.



    FAZIT

    Medikamenteninduzierte Dauerkopfschmerzen durch Mischanalgetika werden leicht verkannt. Typisch für die Schmerzchronifizierung durch solche Analgetika ist die Angabe im Schmerz-Fragebogen, daß die Kopfschmerzen häufiger und heftiger geworden sind und sich im Charakter geändert haben. Besonders wichtig ist dann die Medikamentenanamnese, bei der auch nach selbst gekauften Arzneien gefragt werden muß - auch wiederholt. Liegt ein Abusus vor, haben alle Therapiemaßnahmen, die sonst sinnvoll sein könnten, keinen Sinn, bevor nicht eine Entzugsbehandlung erfolgreich abgeschlossen ist.

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