Chronischer Schmerz ist nichts für Einzelkämpfer

Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sieht man sich als einzelner Arzt oft am Ende seines Lateins: Trotz und manchmal sogar wegen vieler konservativer und auch operativer Therapien klagt ein Patient weiterhin über starke Schmerzen, ist längst abhängig von Analgetika sowie vom täglichen Kästchen Bier, daß sein Büro graue Wände hat, weiß er nur noch aus der Erinnerung, aber die frühzeitige Berentung hat er immerhin schon beantragt.

Von Thomas Kron Veröffentlicht:

Damit langjährige Krankheitsverläufe bei Rückenschmerzen gar nicht erst vorkommen, ist, wie jeder Kollege weiß, die richtige Weichenstellung gleich zu Therapiebeginn mitentscheidend. Gefordert sind also zunächst Hausärzte und niedergelassene Fachärzte, wobei es für sie nicht allein darauf ankommt, Diagnostik und Therapie rasch voranzutreiben; es kommt für sie auch darauf an, die eigenen Grenzen realistisch einzuschätzen, um rechtzeitig - also nach etwa drei oder vier Wochen erfolgloser Therapie - die Chancen für ihre Patienten zu nutzen, die zum Beispiel Schmerz-Spezialisten bieten. Etwa die Kollegen des Mainzer interdisziplinären Schmerz-Therapiezentrums (IST).

Neurologische Untersuchung ist unverzichtbar

Wie grundsätzlich in der klinischen Medizin stehen selbstverständlich auch bei Rückenschmerz-Patienten ganz am Anfang der Therapie Anamnese und körperliche Untersuchung. Nötig ist zudem eine neurologische Untersuchung, also das Prüfen der zentralen wie peripheren Reflexe, der Muskelkraft und Sensibilität, erinnerte der Neurologe Professor Frank Birklein von der Mainzer Universitätsklinik beim zweiten IST-Symposium, unterstützt von den Unternehmen Kyphon, MSD und Pfizer.

Nur so kann eben erkannt werden, ob ein Patient nur Schmerzen hat oder zudem noch neurologische Ausfälle, oder ob sogar ein Konus-Kauda-Syndrom mit drohender Querschnittslähmung vorliegt, das als Notfall ja eine sofortige Einweisung des Patienten in eine Klinik erfordert. Auch der Ausschluß neurologischer Ausfälle ist selbstverständlich wichtig, allein um eine überflüssige radiologische Diagnostik, etwa bei den recht häufigen rein muskulär bedingten Schmerzen, zu vermeiden.

Metastasen, Tb? Auch an diese Möglichkeiten ist zu denken!

Obwohl die meisten Patienten mit Rückenschmerzen keine neurologischen Ausfälle haben und schon gar keine lebensbedrohliche Erkrankung, ist die Kenntnis all jener Ursachen von Rückenschmerzen notwendig, bei denen es mit etwas Physiotherapie, Schmerzmitteln und dem gutgemeinten Rat zu mehr Bewegung als Prophylaxe nicht getan ist. Ein paar Ursachen seien als Beispiele genannt: Das sind zum einen die tumorösen Ursachen, etwa Metastasen bei Patienten mit Brust- oder Prostata-Karzinom, zum anderen die entzündlichen Ursachen, etwa die Tuberkulose oder auch die Borreliose, sowie die vaskulären Ursachen wie das Spinalis-anterior-Syndrom und auch epidurale, subdurale oder gar intramedulläre Blutungen.

Wichtig für die richtige Weichenstellung ist natürlich auch die Kenntnis der psychischen Verfassung und sozialen Situation der Patienten. Wirkt ein Patient depressiv, gestresst oder - nach Angaben von Dr. Ralf Nickel - gibt es Hinweise auf eine Angststörung? Außerdem: Hat der der Patient ein großes Interesse an einer frühen Berentung? Oder neigt er dazu, belastenden Situationen, etwa am Arbeitsplatz, aus dem Weg zu gehen? All diese Faktoren sind, wie der Oberarzt der Abteilung für Psychosomatik der Mainzer Universität erklärte, Risikofaktoren für eine Chronifizierung der Beschwerden. Die rechtzeitige Konsultation eines Kollegen mit Kenntnis der Psychiatrie und Psychosomatik sei in einem solchen Fall sicher sinnvoll.

Was aber kann man tun, wenn Beschwerden trotz aller Bemühungen chronisch geworden sind, wenn man als niedergelassener Kollege das Gefühl hat, bei einem Patienten einfach nicht mehr weiterzukommen?

Betreute Patienten haben oft schon seit Jahren Schmerzen

Ein besonderes Konzept ist von Ärzten der Mainzer Universitätsklinik entwickelt worden: Mit dem 2002 gegründeten interdisziplinären Schmerz-Therapiezentrum bieten sie für Schmerz-Kranke und ihre betreuenden Kollegen das an, was heute eigentlich als Standard gelten sollte: eine wirklich interdisziplinäre Betreuung durch Ärzte verschiedener Fachrichtungen. "Hier wird wirklich interdisziplinäre Schmerztherapie gemacht, was für die Patienten sicher von Vorteil ist", wie die Sprecherin des Zentrums und Leiterin der Neurologischen Klinik in Mainz, Professor Marianne Dieterich sagte.

Betreut werden die Patienten von Anästhesisten, Orthopäden, Neurologen und Psychiatern sowie Fachärzten für psychosomatische Medizin, bei Bedarf auch von Neurochirurgen und Urologen, erklärte der Anästhesist Dr. Rainer Schwab. Im Mittel haben die Patienten bereits seit rund sechs Jahren Schmerzen, wie eine Auswertung der Daten der 70 Patienten ergeben hat, die im vergangenen Jahr im IST betreut wurden.

Ziel der behandelnden Ärzte des Zentrums ist, durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit, etwa in wöchentlichen Fall-Konferenzen, die Diagnostik voranzutreiben, um so schnell wie möglich ein praktikables Therapiekonzept erstellen zu können. Dabei ist die Arbeit der IST-Ärzte nicht beschränkt auf die rein klinische Tätigkeit. Zu ihren Aufgaben gehören auch die Forschung und enge Zusammenarbeit mit Grundlagenforschern. Dieterich: "Wir versuchen, den Bogen von der Grundlagenforschung in die Klinik zu spannen."

So laufen derzeit mehrere Studien, etwa zu Antikonvulsiva bei neuropathischen Schmerzen, oder zur Pathogenese von Rückenschmerzen. Ein Beispiel hierfür sind die Untersuchungen des Neurophysiologen Dr. Roman Rolke, der mit der quantitativen sensorischen Testung bei Rückenschmerz-Kranken spezifische Profile erstellen kann, die Rückschlüsse auf die Pathogenese der Schmerzen erlauben. Ziel dieser Forschung ist natürlich, nach einer präzisen Ursachenforschung eine adäquate Therapie auswählen zu können.

Nutzen von Bandscheiben- Prothesen ist noch unklar

Solche Forschungen ist bei Schmerz-Patienten und auch Rückenschmerz-Kranken auch dringend nötig. Denn auf viele Fragen fehlen noch immer befriedigende Antworten. Nur ein Beispiel ist die Indikationsstellung zur Facetten-Blockade bei Rückenschmerzen. Eine weitere noch unbeantwortete Frage ist die, ob medikamentöse Facetten-Blockaden eine über Placebo-Effekte hinausgehende Wirkung haben. Und auch der Nutzen, vor allem der Langzeitnutzen von Bandscheiben-Prothesen, ist noch unklar. Die meisten Studien sind zu klein, ihre Dauer zu kurz. Nicht einmal die Wirksamkeit der Physiotherapie im Sinne der sogenannten Evidence based medicine ist gesichert.

Klar ist allerdings, daß bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen ein einzelner Arzt schnell an seine Grenzen kommt. Die Behandlung chronisch Schmerzkranker ist eben, wie es in Mainz abschließend hieß, nichts für Alleinunterhalter.

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