Hintergrund

Die UN-Konvention und das Grundrecht auf Erektion

Zum ersten Mal haben sich Richter des Bundessozialgerichts mit Ansprüchen aus der UN-Behindertenkonvention beschäftigt. Im konkreten Fall ging es um ein Potenzmittel für einen MS-Kranken.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Das Bundessozialgericht in Kassel entwickelt nur vorsichtig Leistungsansprüche aus dem Gedanken der Behindertenkonvention.

Das Bundessozialgericht in Kassel entwickelt nur vorsichtig Leistungsansprüche aus dem Gedanken der Behindertenkonvention.

© Bernd Schoelzchen / dpa

"Kein Grundrecht auf Erektion" - hinter der griffigen Formulierung, mit der die jüngste Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel durch die Medien ging, verbirgt sich ein Grundsatzurteil, das die Rechte behinderter Menschen vorsichtig stärkt.

Trotz UN-Behindertenrechtskonvention gilt der Ausschluss potenzsteigernder Arzneimittel vom Leistungskatalog der GKV allerdings auch für sie.

Mit ihrem Grundsatzurteil äußerten sich die obersten Sozialrichter erstmals zu den Konsequenzen der im Mai 2009 in Kraft getretenen Konvention.

Mit dem Grundgedanken der Inklusion enthält diese das Recht "auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung". Allerdings verlangt die Konvention keine Maßnahmen, die eine "unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen".

Diskriminierungsverbot ist anwendbares Recht

Wie nun das BSG entschied, ist nicht die gesamte Konvention, wohl aber ihr Diskriminierungsverbot unmittelbar in Deutschland anwendbares Recht. Es konkretisiere daher das 1994 eingefügte Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes, insbesondere auch in seinem "leistungsrechtlichen Gehalt".

Unter Vorsitz des BSG-Präsidenten Peter Masuch hat der für das Leistungsrecht der GKV zuständige Erste BSG-Senat damit eine Formel gefunden, an der zumindest andere BSG-Senate, etwa für das Arbeitsförderungsrecht und die Sozialhilfe, nur schwer vorbeikommen.

Dabei weiß der Präsidentensenat sehr genau, worum es geht. Masuch ist mit einer Förderschullehrerin für lern- und geistig behinderte Menschen verheiratet, seit 1987 eng mit der "Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung" verbunden und seit 2004 Mitglied in deren Bundesvorstand.

Welche konkreten Ansprüche behinderte Menschen aus der Konvention ableiten können, beispielsweise auch im Schulrecht, wird sich allerdings erst mit der weiteren Rechtsprechung zeigen. Das BSG hatte zunächst nur zur GKV zu entscheiden.

Klage wegen Potenzmittel

Der Kläger leidet an Erektionsstörungen als Folge seiner Erkrankung an Multipler Sklerose. Er nimmt das Arzneimittel Tadalafil (Cialis®); eine Tablette (20 mg) kostet um 14 Euro. Ohne das Arzneimittel sei er wegen seiner Behinderung benachteiligt, argumentiert er.

Aus der UN-Konvention ergebe sich ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dies beinhalte auch das Zusammensein mit einer Partnerin. "Die Teil habe findet hier in relativ kleinen, intimen Situationen statt", sagte Kläger-Anwalt Oliver Tolmein.

Wie nun das BSG entschied, ist, bezogen auf das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, das Diskriminierungsverbot der UN-Konvention im Wesentlichen deckungsgleich mit dem des Grundgesetzes.

Letzterem hatte auch schon das Bundesverfassungsgericht einen Leistungsgehalt zugesprochen, der aber unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit stehe.

Richter: Gesetzgeber dürfe Grenzlinien ziehen

Gleiches gelte auch für die Konvention; zumindest im Bereich der Krankenversicherung sei auch sie "nicht hinreichend bestimmt", sagte Masuch bei der Urteilsverkündung.

Dem Gesetzgeber bleibe daher ein weiter Spielraum, den Inhalt der Konvention mit Ausführungsgesetzen zu füllen. Dabei dürfe der Gesetzgeber "aus Gründen der Rechtssicherheit klare Grenzlinien ziehen".

Konkret urteilte daher das BSG: "Der Gesetzgeber verletzt seinen Gestaltungsspielraum nicht, wenn er angesichts der beschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung solche Leistungen aus dem Leistungskatalog ausschließt, die in erster Linie einer Steigerung der Lebensqualität jenseits lebensbedrohlicher Zustände dienen. Dies gilt erst recht, wenn es sich um Bereiche handelt, bei denen die Übergänge zwischen krankhaften und nicht krankhaften Zuständen auch maßgeblich vom subjektiven Empfinden des einzelnen Versicherten abhängen können."

Zudem treffe der Leistungsausschluss nicht nur Behinderte, sondern alle gesetzlich Versicherten gleichermaßen.

Az.: B 1 KR 10/11 R

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