Ein Arztroman gilt als Stifters persönlichstes Werk

Von Klaus Brath Veröffentlicht:

An Adalbert Stifter scheiden sich seit jeher die Geister. Wer es schaffe, Stifters unendlich langweiligen Wälzer "Der Nachsommer" (1857) zu Ende zu lesen, dem verspreche er "die Krone von Polen" - so lästerte Friedrich Hebbel über den Dichter.

Dagegen zählte Friedrich Nietzsche dieses Buch zu der raren deutschen Prosa-Literatur, die "es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden". Thomas Mann bewunderte Stifter sogar als einen "der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur".

Ähnlich kontrovers wie über Stifters dichterischen Rang wurde über seine "Aktualität" diskutiert. "Nicht eine Spur von moderner Zerrissenheit" sah etwa Joseph von Eichendorff im Werk des Dichterkollegen. "Er ist schon längst aus der Mode", hieß es jedoch drei Jahre vor Stifters Tod in der Kulturzeitschrift "Europa".

Daß Stifters Werk sogar eine "Marke der Postmoderne" gesetzt habe, meint hingegen der Germanist Johann Lachinger. Glaubt man Büchner-Preisträger Arnold Stadler, so ist Stifters Faszination auch 200 Jahre nach dessen Geburt noch längst nicht ausgelotet: "Stifter ist ein unheimlicher Autor, der mit jeder Lektüre noch unheimlicher wird", schreibt Stadler in seiner 2005 erschienenen Liebeserklärung an den österreichischen Dichter.

Mißverständliches prägt jedoch nicht nur die Rezeption von Stifters Werk, in der er allzu oft als purer Naturschilderer und Harmonisierer abgestempelt wurde, sondern auch die vielschichtige Biographie des Dichters, der vor 200 Jahren, am 23. Oktober 1805, in Oberplan im Böhmerwald als Sohn eines Leinenwebers geboren wurde.

Noch 1847 heißt es, Stifters Hauptbegabung verkennend, in einem Künstlerlexikon: "Stifter, Adalbert, Maler zu Wien, ... , ist auch als belletristischer Schriftsteller bekannt". Später arbeitete er, der als Junge noch Pfarrer werden wollte, auch als Redakteur, Denkmalpfleger, Kunstförderer und lange Zeit als Schulinspektor und Pädagoge.

Stifter hatte einige Schicksalschläge zu verkraften: Sein Vater starb durch Unfalltod, seine Pflegetochter (seine Ehe war kinderlos geblieben) verlor er durch Suizid. Die Umstände um seinen eigenen Tod bleiben unklar: Von den zunehmenden Symptomen einer Leberzirrhose gequält, fügte sich der ehemals hochgradig adipöse und nunmehr stark abgemagerte Dichter am 26. Januar 1868 mit einem Rasiermesser eine blutende Wunde am Hals zu.

Ob der Vorfall als Suizidversuch, versehentliche Verletzung oder krankheitsbedingte Blutung interpretiert werden sollte, wird bis heute kontrovers diskutiert. Am 28. Januar starb Stifter.

Noch wenige Tage vor seinem Tod hatte Stifter an einem Werk gearbeitet, in dem ein vorbildlicher Arzt die Hauptfigur ist. Stifter hatte den Bildungsroman "Die Mappe meines Urgroßvaters" seit der erstmals 1841/2 veröffentlichten Fassung mehrmals überarbeitet bis hin zu zwei unvollendet gebliebenen Fragmenten.

In allen Fassungen liest der Erzähler in einem alten Lederband die Lebensgeschichte seines Urgroßvaters, des Arztes Augustinus, der im 18. Jahrhundert im Böhmerwald praktiziert. Augustinus begegnet seinen Kranken weniger mit neuer, wissenschaftlicher Methodik und Lehrbuchwissen, eher mit Diätetik und Naturverständnis.

Nach vielen selbst mitverschuldeten Krisen prüft er sich selbst: "Bin ich ein rechter Mensch gewesen oder ein rechter Arzt?", läßt Stifter ihn sagen. Erst durch die Überwindung persönlicher Schwächen und Krisen reift Augustinus in Stifters Buch zu einem wahrhaft verantwortungsvollen Arzt heran. Stifter nannte "Die Mappe" sein "Lieblingskind"; es gilt als sein persönlichstes und reifstes Werk.

Arnold Stadler: "Mein Stifter". DuMont Verlag, Köln 2005. 195 Seiten. Euro 17,90. ISBN 3832179097.

Informationen zu den Veranstaltungen des Stifter-Jahres 2005 gibt es im Internet unter: www.stifter2005.at



Adalbert Stifter - Stationen seines Lebens

23.10.1805 Geburt in Oberplan (Böhmerwald) als Sohn eines Leinenwebers 1826-1830 Jurastudium in Wien (nicht abgeschlossen) 1837 Heirat mit Amalia Mohaupt 1840 Erstfassung der "Mappe meines Urgroßvaters"; Aufstieg zum Erfolgsschriftsteller (bis dahin verstand sich Stifter mehr als Maler) 1844-1850 Veröffentlichung der "Studien" (6 Bände) 1850-1865 Landesschulinspektor für Volksschulen 1853 Landeskonservator der Kunstdenkmäler Oberösterreichs 1854 Beginn von nervösen und körperlichen Krankheitserscheinungen 1857 Veröffentlichung des Bildungsromans "Der Nachsommer" 1865-7 Veröffentlichung des historischen Prosaepos "Witiko" 1867 Letzte, unvollendete Überarbeitung der "Mappe meines Urgroßvaters" 26.1.1868 Suizidversuch durch einen Schnitt in den Hals; anschließende Bewußtlosigkeit 28.1.1868 Tod in Linz

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