Lisbeths letzte Reise

Vater, Mutter und das Ende des Lebens

Er setzt das Sterben seiner Eltern in Szene, ohne ihre Würde zu verletzen: Filmemacher Thomas Carlé ist ein beeindruckender Dokumentarfilm gelungen.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Lisbeth Carlé auf ihrer "letzten Reise".

Lisbeth Carlé auf ihrer "letzten Reise".

© Thomas Carlé

FRANKFURT/MAIN. Wenn Lisbeth Carlé unter der Haube sitzt, ist sie glücklich. Jede Woche gönnt sie sich den Besuch beim Friseur: die Tönung, die Dauerwelle, den Blick in die Illustrierte, während ihr Haar trocknet. Daheim wartet ihr Mann auf sie, unruhig, hilflos, beinahe panisch. Heinrich Carlé ist 90, altersdement und auf seine Frau fixiert.

Von beider Leben und Sterben erzählt ihr Sohn Thomas Carlé in seinem einzigartigen Dokumentarfilm "Lisbeths letzte Reise", der am Sonntag im Kino Mal Seh‘n in Frankfurt am Main Premiere feiert. Zwölf Jahre lang hat er die Eltern durch sein Kameraauge beobachtet, womit ihm ein ebenso beklemmender wie warmherziger Film geglückt ist.

Ein Mann ohne Befugnis

Nicht von ungefähr ist es seine Mutter, die dem Film ihren Namen leiht: Lisbeth Carlé, 1920 geboren und von Beruf Prokuristin, wurde von ihren drei Söhnen mitunter "Don" genannt, während ihrem fünf Jahre älteren Mann die Rolle des "Bundespräsidenten" zukam – nach außen hin der Chef, aber faktisch ohne Befugnis.

Der Film setzt 2004 ein, in jenem Jahr, da Thomas Carlé mit seiner Frau Sung-Hyung ins Haus seiner Eltern nach Usingen zog, wenige Kilometer nördlich von Frankfurt. Kurz zuvor hatte der 1952 geborene Filmemacher, Kameramann, Drehbuchautor und Cutter, der an der Deutschen Film-und Fernsehakademie in Berlin (DFFB) studiert und sogleich mit seinem Abschlussfilm "The Sound of Freedom" mehrere Preise eingeheimst hat, eine Professur am Fachbereich Media der Hochschule Darmstadt angetreten.

Den Vater zeigt der Film zu Anfang als durchaus fröhlichen Mann. Seine Erinnerungslücken überspielt er geschickt, wobei zunächst nicht klar wird, ob ihm sein Sohn tatsächlich fremd ist oder ob er ihn bloß an der Nase herumführt.

Wenn sein Hausarzt Dr. Thomas Kroeger vorbeischaut, wechselt der 90-Jährige, der als junger Mann vier Jahre im besetzten Frankreich Dienst tat, unvermittelt ins Französische. "Pourquoi?", fragt er den Arzt und findet seinen Zustand "formidable".

Auf die Frage, warum er nicht seine Tabletten nimmt, antwortet er mit: "Je ne sais pas." Das jedoch ist gelogen.

Das letzte Gebet

"Mein Vater hatte einen Plan", sagt Thomas Carlé, der auch schon in seinen früheren Filmen autobiographische Motive in den gesellschaftspolitischen Diskurs seiner Zeit wob, wobei er etwa die Amerikanisierung deutscher Kultur, das deutsch-deutsche Verhältnis oder die Auseinandersetzung um die Frankfurter Startbahn West thematisierte.

"Er lehnte jede künstliche Verlängerung seines Lebens ab, aß nichts mehr und verweigerte seine Medikamente." Damit verkürzte er nicht nur sein eigenes Siechtum, sondern auch das Leid seiner Frau.

Thomas Carlé schont seine Zuschauer nicht: Er zeigt das letzte Gebet seines Vaters, das hohlwangige Antlitz des Toten und den Moment, da die Leiche in den Sarg gehoben wird. "Ich wollte das Sterben so zeigen, wie es tatsächlich ist, um der überzuckerten, sentimentalen Darstellung des Todes etwas entgegenzusetzen."

Einer will sterben, die andere nicht

Lisbeth und Heinrich Carlé konnten unterschiedlicher nicht sein. Während er auf seinen schnellen Tod drängt, klammert sie sich an das Leben. Acht Jahre währt ihr Martyrium. Auf die Banalität des Sterbens und die Tatsache, dass sie am Ende ihres Lebens gar nichts mehr im Griff hat, reagiert sie verletzt.

Wie schon den Verfall Heinrichs dokumentiert ihr Sohn nun auch ihre langsame Auflösung. Erst schwindet ihre Kraft, dann die Farbe ihres Haars, und schließlich frisst sie der Krebs von innen auf. Im Gegensatz zu ihrem Mann aber darf Lisbeth nicht daheim sterben.

Jahrelang wechselt sie vom Heim ins Krankenhaus und wieder zurück ins Heim. "Alle warten nur auf den Tod", sagt sie und wünscht sich selbst einen "kurzen Prozess". Einerseits. Andererseits lässt die Katholikin, für die das Leben heilig ist, lange nicht los. Bis sie im Alter von 94 Jahren stirbt.

Das Totenbild seiner Mutter spart Thomas Carlé im Film aus. Stattdessen zeigt er das wogende Feld vom Anfang, Sinnbild eines bewegten Lebens.

Würdevoller Film

Mit "Lisbeths letzte Reise" gelingt dem Träger des Adolf-Grimme- ("Männer auf Rädern", 1993) und Max-Ophüls-Preises ("Full Metal Village", 2006) ein Kunststück: das Sterben zweier Menschen in Szene zu setzen, ohne ein einziges Mal ihre Würde zu verletzen.

In einer Zeit, da der Tod zwar allgegenwärtig ist, doch auf geradezu schamlose Weise tabuisiert wird, hält der Film ein Plädoyer auf das Leben, das unser Sterben mit einschließt.

Info: "Lisbeths letzte Reise" wird am 6. und 13. November 2016, jeweils um 12 Uhr, im Frankfurter Kino Mal Seh'n (Adlerflychstraße 6, 60318 Frankfurt am Main, Telefon 069-5970845, info@malsehnkino.de, www.malsehnkino.de) gezeigt. An beiden Tagen ist Regisseur Thomas Carlé anwesend.

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