Psychisch krank - Menschen mit dem gewissen Etwas

"Wir behandeln die Falschen - unser Problem sind die Normalen": Das ist der Untertitel eines Erfolgsbuchs und zugleich Kernthese des Vortrags, mit dem der Arzt, Theologe und Bestsellerautor Dr. Manfred Lütz den Hauptstadkongress 2010 eröffnen wird. Wir veröffentlichen ein Kapitel seines Buchs in Auszügen.

Von Manfred Lütz

... Menschen mit psychischen Störungen. lassen sich nicht uniformieren. Sie erlauben sich verrückte Gedanken. Sie sprengen starre Konventionen. Damit erweisen sie uns allen einen großen Dienst, denn sie halten die humane Temperatur einer Gesellschaft über dem Gefrierpunkt, indem sie ihr nicht nur ein menschliches Gesicht, sondern ganz viele unterschiedliche menschliche Gesichter geben. Psychisch kranke Menschen sind nicht bloß gewöhnlich, sie sind außergewöhnlich. Sie sind nicht bloß ordinär wie unsereins, sondern extraordinär. Nichts Menschliches ist ihnen fremd.

Eine liebenswürdige und bunte Welt

Wenn man auf solche Weise erst einmal die unsichtbaren Schranken niedergelegt hat, die immer noch die Normalen von den anderen trennen, wird der Blick frei für diese liebenswürdige und bunte andere Welt, die chaotischer, aber auch fantasievoller, die erschütternder, aber auch existenzieller, leidvoller, aber auch weniger zynisch ist als die glatt lackierte allgemein herrschende Normalität.

Da sind die ehrgeizigen eitlen Erfolgsmenschen, die als Demente zum ersten Mal in ihrem erwachsenen Leben hilfsbedürftig, aber dadurch zugleich auch erstmals wirklich echt und anrührend wirken. Da sind die immer so korrekten und empfindsamen Süchtigen, die ihr Leben lang unermüdlich auf der Suche sind nach einem Menschen, der sie nicht mehr beschämt, verachtet, verletzt, und die sich im Rausch hinaussehnen aus einer ihrer Empfindsamkeit so rücksichtslos zusetzenden Welt. Da sind die weisen Schizophrenen, die nicht bloß in einer, sondern in ganz vielen fantastischen Welten leben, die sich jeder uniformierenden Zudringlichkeit ihrer Mitmenschen höflich verweigern und ihr Geheimnis niemandem aufdrängen. Die dünnhäutiger sind als andere, aber dadurch auch sensibler für manches, das uns nicht der Rede wert erscheint.

Da sind die erschütternd Depressiven, die angstvoll ins existenzielle Nichts starren, die für eine Zeit ihres Lebens unfähig geworden sind, ihren Blick von den alles in Frage stellenden Urerfahrungen des Menschen wegzuwenden, von auswegloser Schuld, von existenzieller Bedrohung, von hoffnungsloser Angst. Über sie hinweg tanzt eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds, die blind ist für die wirklich wichtigen Fragen - und diese Blindheit komischerweise für normal hält.

Da sind die hinreißenden Maniker, die in ihrer prallen und unmittelbaren Vitalität mitten in eine in leblosen Riten erstarrte Normalgesellschaft hineinplatzen. Die trotz all ihres Größenwahns ganz hemmungslos die Wahrheit sagen, so wie Kinder es manchmal tun, und dadurch plötzlich alle Verlogenheiten der Normalen spektakulär entlarven. (...)

Und da sind schließlich all diese schrillen Gestalten, die sich und andere immer wieder nachhaltig beunruhigen, die so gar nicht normal, aber auch nicht eigentlich krank sind. Sie bringen Farbe in ein dahinplätscherndes Leben, es sind die Aufreger, die Übertreiber, die allzu kantigen Gestalten, an denen man sich gelegentlich verletzen kann und an denen man kaum vorbeikommt.

Ein lustvolles Durcheinander im Paradies

Hat der liebe Gott diese Menschen mit dem gewissen Etwas wirklich geschaffen, damit man sich aufs Paradies noch freuen kann, weil es da keine solchen Psychopathen mehr gibt? Oder ist es nicht vielleicht ganz anders und wir regen uns im Paradies bloß nicht mehr so auf? Vielleicht finden wir das ganz und gar Außergewöhnliche dann sogar gut. Vielleicht gibt es im Paradies ein lustiges Durcheinander von Schizophrenen, Manikern, Neurotikern und Psychopathen - aber niemanden mehr, der darunter leidet, und vor allem keine Psychiater, die die Fülle des Außergewöhnlichen in biedere Diagnosen verpacken.

Und wenn nicht das Gewöhnliche, sondern das Außergewöhnliche Ewigkeitscharakter haben sollte, dann mag es sein, dass es im Himmel vielleicht sogar überhaupt nichts Normales geben wird, sondern nur Originales, nichts Serienmäßiges, sondern nur Echtes, nichts Mittelmäßiges, sondern nur Staunenswertes. Dann hätte sich der "Münchner im Himmel" vielleicht so richtig wohlgefühlt und wäre nicht am ewigen Hallelujasingen verzweifelt.

Hotels sehen alle gleich aus, Krawatten auch

Von einem so farbenfrohen Himmel scheinen wir heute ... weiter entfernt als je zuvor. All die ordentlichen Normalen haben uns gezähmt und das Leben uniformiert. Hotels sehen in der ganzen Welt inzwischen gleich aus, Krawatten und Anzüge auch, und selbst die Umgangsformen haben sich weltweit angeglichen. Exotisches gibt es eigentlich nur noch im Museum. Und alles Irritierende soll irgendwie "psychologisch" wegerklärt oder am besten psychiatrisch weggesperrt werden. Es sind die Normalen, die psychisch Kranke aussondern, zugleich aber wirksame Behandlungsformen gedankenlos verteufeln.

Die Tyrannei der Normalität lebt von der großen Illusion der ewigen Weiterexistenz des Normalen und der Flüchtigkeit des Außergewöhnlichen. Dabei wird es wohl eher umgekehrt sein. Denn das Normale ereignet sich nicht, es ist nur der Hintergrund für das Eigentliche. Im Grunde existiert das Normale nicht, denn es hat keine Substanz....

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