Arzneimittel-Innovationen für Osteuropa

Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch vor 20 Jahren und der Krise in den 90er Jahren hat sich in den Ländern Ost- und Mitteleuropas eine starke Dynamik entwickelt. Eine Chance für eine moderne Arzneimittelversorgung, wie das Beispiel Boehringer Ingelheim zeigt.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Biopharmazeutische Produktion von Boehringer Ingelheim in Biberach: Der Markt in Osteuropa wächst besonders dynamisch.

Biopharmazeutische Produktion von Boehringer Ingelheim in Biberach: Der Markt in Osteuropa wächst besonders dynamisch.

© Boehriner Ingelheim

Die Jahre 1989/90 markieren auch für die Länder Mittel- und Osteuropas eine Wende von der sozialistischen Diktatur und der Abhängigkeit von der Sowjetunion zur Demokratie und Eigenständigkeit. Nur: Anders als Ostdeutschland mussten diese Länder ihre Restrukturierung zu einem erheblichen Teil aus eigener Kraft aufbringen - und dieser Prozess wird noch Jahre erfordern.

Das gilt insbesondere auch für den Aufbau von Sozialversicherungen und eines leistungsfähigen Gesundheitswesens. Ablesen lässt sich dies unter anderem an der Arzneimittelversorgung.

Generell galt bis Ende der 80er Jahre, dass es keine Breitenversorgung mit modernen westlichen Arzneimitteln gab. Allerdings hatten westliche Unternehmen wie Boehringer Ingelheim durchaus Kontakte zu Institutionen des staatlichen Gesundheitswesens.

Vor dem Fall der Mauer war die zweimal im Jahr stattfindende Leipziger Messe ein Forum, den Zielgruppen in der ehemaligen DDR neue Präparate vorzustellen, sie mit medizinisch-wissenschaftlichen Informationen zu versorgen sowie Kontakte zu Gesundheitsbehörden und zur Industrie vor Ort zu knüpfen. Bei Boehringer Ingelheim wurde dieses DDR-Geschäft vom Regionalzentrum Wien aus gesteuert, das noch heute für Mittel- und Osteuropa verantwortlich ist.

Fakten

Boehringer Ingelheim in Zahlen (2009)

Gesamtumsatz: 12,7 Milliarden Euro, davon knapp 50 Prozent in Amerika. Historie: 1885 von Albert Boehringer in Ingelheim gegründet, auf Eigenständigkeit bedachtes Familienunternehmen, Wachstumsdynamik auf Forschung basiert. Blockbuster: Spiriva 2,4 Milliarden Euro, Flomax 1,414 Milliarden Euro, Micardis 1,393 Milliarden Euro. Forschung und Entwicklung: 2,215 Milliarden Euro (17,4 Prozent vom Umsatz), davon 2,1 Milliarden Euro für verschreibungspflichtige Medikamente. Hauptforschungsgebiete: Atemwegserkrankungen, Kardiometabolische Erkrankungen, Onkologie, neurologische Erkrankungen, Immunologie, Hepatitis C, HIV/Aids. Mitarbeiter: 41.543, davon mehr als 50 Prozent in Europa; Mitarbeiter in der Forschung: 6934. Produktions- und Forschungsstandorte in Deutschland: Ingelheim, Biberach, Dortmund.

Über Nacht Versorgung mit dem West-Standard

Mit der deutschen Wiedervereinigung entstand eine grundsätzliche neue Situation. Im Einigungsvertrag war vereinbart worden, dass ab dem 1. Januar 1991 das Krankenversicherungsrecht der alten Bundesrepublik auch für die neuen Länder galt.

Für die Arzneimittelversorgung bedeutete das: 17 Millionen Bürger in Ostdeutschland hatten über Nacht einen kompletten Leistungsanspruch auf Medizin nach Weststandard - den zu befriedigen für die Logistik moderner Pharma-Unternehmen kein Problem war.

Klinische Studien - eine Hilfe für Osteuropas Patienten

Anders als in der Krankenhausbehandlung oder der Pflege, die Milliarden-schwere mehrere Jahre dauernde Investitionsprozesse benötigten, gelang der Anschluss an eine moderne, westlichen Standards entsprechende Pharmakotherapie binnen kürzester Zeit.

Weitaus schwieriger war die Entwicklung in Russland, Ost- und Mitteleuropa. Der Zusammenbruch der Strukturen und insbesondere auch der Arbeitsteilung der ehemaligen COMECON-Staaten führte die Menschen dort zunächst in ein tiefes Tal bitterer Armut. Davon war auch die medizinische Versorgung betroffen.

Viele internationale Unternehmen zogen sich in diesen Krisenjahren aus Russland und Osteuropa zurück. Boehringer Ingelheim entschied sich anders, hielt den Betrieb seiner Dependancen in den meisten Hauptstädten aufrecht. Die Bereitschaft, vor Ort zu investieren und die Entschlossenheit, für die Kunden auch in Krisenzeiten da zu sein, wurde als verlässliche Partnerschaft geschätzt und hat sich als langfristig erfolgreiche Strategie erwiesen.

2009 setzte Boehringer Ingelheim auf den mittel- und osteuropäischen Märkten einschließlich Österreich 596 Millionen Euro um. Das jährliche Wachstum ist meist zweistellig. Besonders dynamisch entwickelt sich der Umsatz mit biopharmazeutischen Produkten, der zuletzt 118,3 Millionen Euro erreichte -  ein Plus gegenüber 2008 von 16,2 Prozent.

Von Wien aus werden auch zahlreiche Forschungsprojekte gesteuert, von denen ganz Osteuropa profitiert. Die Forschungsinvestitionen mit dem Schwerpunkt Krebserkrankungen belaufen sich auf 145 Millionen Euro (2009). Insgesamt sind mehr als 27 000 Patienten in klinische Studien in 20 Ländern der Region eingeschlossen.

Für die Patienten in diesen Ländern mit noch entwicklungsbedürftigen Krankenversicherungssystemen hat dies eine besondere Bedeutung: Sie erhalten Zugang zu einer hochmodernen Therapie, von der sie ansonsten ausgeschlossen wären oder die sie zu erheblichen Teilen privat bezahlen müssten.

Das Ergebnis dieser Aktivitäten ist beachtlich: Allein in neuerer Zeit hat Boehringer Ingelheim in den mittel- und osteuropäischen Ländern 50 Neuzulassungen erhalten und gilt damit als eines der innovativsten Unternehmen.

Für die Zukunft bleiben große Herausforderungen. Der russische Arzneimittelmarkt ist dafür charakteristisch: für 160 Millionen Einwohner wurden 2009 zwölf Milliarden Euro ausgegeben. (Deutschland zum Vergleich: gut 30 Milliarden Euro für 72 Millionen GKV-Versicherte). Aber trotz Wirtschaftskrise wuchs der russische Arzneimittelmarkt 2009 um 18 Prozent. Bis 2020 könnte sich nach einer Prognose der russischen Regierung das Volumen vervierfachen.

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