Gastbeitrag

"Beratung vor Regress": Hickhack um Altfälle

Greift der seit diesem Jahr geltende Grundsatz "Beratung vor Regress" auch für Verordnungen aus dem vorgelagerten Zeitraum? Alles spricht dafür, auch wenn manche Prüfgremien ihre eigene Realität schaffen.

Von Gerhard Nitz Veröffentlicht:
Zu viel verordnet? Seit diesem Jahr gilt das Prinzip Beratung vor Regress.

Zu viel verordnet? Seit diesem Jahr gilt das Prinzip Beratung vor Regress.

© Klaus Rose

BERLIN. Seit Jahresbeginn gilt der neu geschaffene Paragraf 106 Abs. 5e SGB V. Danach erfolgt statt eines Regresses "bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung".

Klar ist: Vertragsärzten, gegen die bislang kein Richtgrößenregress festgesetzt wurde, droht für Verordnungen im Jahr 2012 in der Richtgrößenprüfung nur eine Beratung. Umstritten ist, ob dies auch für Verordnungen aus dem Zeitraum bis 2012 gilt, über die die Prüfgremien nun entscheiden.

In einem Schreiben vom 04.04.2012 legte das Bundesgesundheitsministerium ausführlich dar, warum die Beratungsregelung auch auf Verfahren Anwendung findet, die Verordnungen vor 2012 betreffen.

Dem Vernehmen nach wollen jedoch viele Prüfgremien die neue Regelung trotzdem nicht auf die Altverfahren anwenden - ein rechtswidriger Akt.

BSG-Rechtsprechung wird als Maßstab herangezogen

Gegen die Anwendung der Beratungsregelung auf Prüfverfahren bezüglich der Verordnungsjahre bis 2011 verläuft die Argumentationslinie so, dass das Bundessozialgericht (BSG) entschieden habe, auf Wirtschaftlichkeitsprüfungen seien diejenigen materiellen Regelungen anzuwenden, die im Prüfquartal galten.

Etwas anderes gelte nur für Vorschriften über das formelle Verfahren (Az.: B 6 KA 34/07 R). Eine Rückwirkung der Beratungsregelung zu Lasten der Krankenkassen sei unzulässig.

Das klingt hochjuristisch, überzeugt aber nicht. Zunächst: Es geht nicht um "Rückwirkung". Die Neuregelung zur Beratungspflicht wirkt nicht zurück auf Verordnungen vergangener Jahre, sondern wirkt nun für jetzt durchgeführte Prüfverfahren. Geregelt wird nichts Vergangenes, sondern das, was die Prüfgremien heute zu tun haben.

Eine Rückwirkung läge vor, wenn die Maßstäbe der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Verordnungen vergangener Jahre verändert würden. Konkret müssten zum Beispiel Richtgrößen geändert oder Arzneimittel wegen zwischenzeitlich neuer Erkenntnisse anders beurteilt werden.

In solchen Fällen gilt mit der angeführten BSG-Entscheidung in der Tat, dass die Prüfmaßstäbe angewendet werden müssen, die im Verordnungszeitpunkt galten.

Die neue Beratungsregelung verändert aber gerade nicht die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Verordnungen vergangener Jahre, sondern regelt, was die Prüfgremien heute zu entscheiden haben, wenn im Prüfverfahren festgestellt wurde, dass das vergangene Verordnungsverhalten unwirtschaftlich war.

Behörden müssen immer geltendes Recht anwenden

So steht es im Gesetz

Paragraf 106 Abs. 5e SGB V:

" Abweichend von Absatz 5a Satz 3 erfolgt bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung nach Absatz 5a Satz 1. Ein Erstattungsbetrag kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden. Dies gilt entsprechend, wenn ein Vertragsarzt die ihm angebotene Beratung abgelehnt hat. Im Rahmen der Beratung nach Satz 1 können Vertragsärzte in begründeten Fällen eine Feststellung der Prüfungsstelle über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten beantragen. Eine solche Feststellung kann auch beantragt werden, wenn zu einem späteren Zeitpunkt die Festsetzung eines Erstattungsbetrags nach Absatz 5a droht. "

Sodann gibt es keinen Rechtsgrundsatz, dass formelle Regelungen rückwirkend angewendet werden, materielle hingegen nicht. Auch das BSG hat das nicht behauptet.

 Der rechtliche Ausgangspunkt ist vielmehr einfach: Eine Behörde muss das Recht anwenden, das zum Zeitpunkt ihres Handelns gilt. Dies folgt aus der Bindung des Verwaltungshandelns an das jeweils geltende Recht - einem der Kernsätze des Rechtsstaats.

Von dieser Grundregel gibt es eine Ausnahme, die unter dem Stichwort "Rückwirkung" diskutiert wird: Beurteilen Behörden vergangenes Verhalten, stellt sich die Frage, welches Recht anzuwenden ist, wenn sich zwischen dem Handeln des Bürgers und dem Handeln der Verwaltung die Rechtslage geändert hat.

Hat sie sich zugunsten des Bürgers geändert, wendet die Behörde das Recht an, das zum Zeitpunkt ihres Handelns gilt. Hat sich die Rechtslage jedoch für den Bürger verschlechtert, kann es unbillig sein, das neue Recht anzuwenden.

Juristisch löst man dies über das Rückwirkungsverbot: Durfte der Bürger auf die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens vertrauen, darf eine zu seinen Lasten geänderte Rechtslage nicht rückwirkend auf den abgeschlossenen Sachverhalt angewendet werden.

Diese Grundregeln gelten auch für den neuen Paragrafen: Die Prüfgremien müssen das Recht anwenden, das zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung gilt, im Jahr 2012 also die Beratungsregelung.

Etwas anderes würde nur im Fall einer rechtswidrigen Rückwirkung gelten, um die es hier nicht geht. Aber selbst dann wäre zu fragen, ob durch die Anwendung der Beratungsregelung auf Verordnungen vor 2012 rechtlich geschütztes Vertrauen eines Bürgers enttäuscht wird. Dies ist nicht der Fall, weil die betroffenen Ärzte von der Anwendung der Beratungsregelung profitieren.

Krankenkassen entgehen damit zwar Regresse, doch sind sie als mittelbare Staatsverwaltung nicht Grundrechtsträger. Kassen, KVen und Prüfgremien sind als mittelbare Staatsverwaltung grundrechtsverpflichtet und müssen die Grundrechte der Vertragsärzte wahren.

Nicht jedoch umgekehrt gilt, dass sich der Staat - Prüfgremien - gegenüber seinen Bürgern - Vertragsärzten - auf Grundrechte berufen kann.

Richter wollen keinen neuen Rechtsgrundsatz aufstellen

Freilich ist nicht vorauszuahnen, wie das BSG urteilen wird. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass es in der zitierten Entscheidung einen neuen Rechtsgrundsatz aufstellen wollte. Dafür spricht bereits, dass es kein Wort der Begründung anführt.

Offensichtlich will das BSG nur die Rechtslage beschreiben, aus der sich ergibt, dass formelle Regelungen zu Zuständigkeit, Verfahren und Form so anzuwenden sind, wie sie zum Entscheidungszeitpunkt gelten.

Hinsichtlich inhaltlicher Regelungen in Bezug auf die Verordnungstätigkeit niedergelassener Vertragsärzte ist aber wegen des Rückwirkungsverbots zugunsten der Mediziner das im Verordnungszeitraum geltende Recht zu beachten.

Die Anwendung elementarer rechtsstaatlicher Grundsätze führt also zu einem einfachen Ergebnis: Sowohl Prüfungsstelle als auch Beschwerdeausschuss müssen im Jahr 2012 die Beratungsregelung anwenden, egal welches Verordnungsjahr betroffen ist.

Etwas anderes gilt für Gerichtsverfahren, die sich gegen Richtgrößenregresse richten, die vor 2012 festgesetzt wurden. Hier gilt der allgemeine Grundsatz, dass die Gerichte dasjenige Recht anwenden müssen, das zum Zeitpunkt der überprüften Behördenentscheidung bestand, wie auch das Sozialgericht Düsseldorf feststellte (Az.: S 2 KA 206/10).

Solange aber die Behördenentscheidung noch aussteht, ist das heute geltende Recht maßgeblich: Beratung geht vor Regress.

Dr. Gerhard Nitz ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in der Kanzlei Dierks+Bohle Rechtsanwälte, Berlin.

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