Kasse beklagt "Arztrennerei" der Deutschen

In Deutschlands Arztpraxen hieß es im Jahr 2008 gleich 1,5 Milliarden Mal: "Der nächste Patient, bitte." Das ist Weltspitze, wie aus dem gemeinsamen Arztreport der fusionierten Krankenkasse Barmer GEK hervorgeht.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

BERLIN. 18 Arztkontakte je Versichertem im Jahr: Bei den Verantwortlichen der größten gesetzlichen Krankenkasse in Deutschland Barmer GEK weckt dies zwiespältige Gefühle. "Das ist ein Indiz für eine hohe Akzeptanz des Arztangebots", sagte Barmer GEK-Vize Rolf-Ulrich Schlenker bei der Vorstellung des ersten gemeinsamen Arztreports des fusionierten Hauses. Offensichtlich müssten zumindest die Patienten in Hausarztpraxen keine lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Sonst würden sie nicht so oft zum Arzt gehen.

Mit 18 Arztkontakten pro Versichertem in einem Jahr liegt Deutschland international an der Spitze. In Schweden wurden von der OECD 2006 gerade 2,8 Kontakte registriert.

In Deutschland sind den Barmer GEK-Daten zufolge 77 Millionen Menschen 2008 mindestens einmal zum Arzt gegangen. Das führte zu 614 Millionen Behandlungsfällen. 2007 waren es noch 586 Millionen Fälle gewesen. 57 Prozent der Patienten waren im Berichtsjahr bei vier und mehr Ärzten in Behandlung.

Die häufigsten Diagnosen 2008 waren Rückenschmerzen (26 Prozent), Bluthochdruck (25,4 Prozent), Sehstörungen (21,5 Prozent) und Fettstoffwechselstörungen.

Die "Arztrennerei" könne auch auf eine angebotsinduzierte Nachfrage, also auf ein Überangebot an Ärzten, oder auf Koordinationsmängel in der Patientensteuerung hinweisen, sagte Schlenker. Ersteres lässt sich aus den Zahlen des Reports nicht herauslesen. Die Bewohner Sachsen-Anhalts, einem Land mit geringer Arztdichte, gehen kaum weniger häufig zum Arzt als die in Bayern und Baden-Württemberg, wo sich deutlich mehr Ärzte niedergelassen haben.

Die fehlende Steuerung sieht Schlenker hingegen sehr wohl. Die Fakten deuteten auf Drehtüreffekte und Doppeluntersuchungen hin.

Kritik äußerte Schlenker an den kurzen Sprechzeiten. Bei rechnerisch acht Minuten Zeit pro Patientenkontakt sei der nächste Besuch des Patienten in der Praxis abzusehen. Ließen sich Ärzte sich mehr Zeit, könnten Folgebesuche beim selben oder bei einem anderen Arzt mit dem gleichen Anliegen vermieden werden, glaubt Schlenker.

Die Praxisgebühr schrecke diejenigen, die sie bezahlen müssten, nicht mehr ab. Allerdings lasse sie sich kaum ersetzen. Dafür habe sie mit zwischen 1,5 und zwei Milliarden Euro im Jahr zu viel Gewicht erlangt. Der richtige Ansatz sei der Hausarzt als Steuermann durch das Gesundheitssystem, warb Schlenker für einen Ausbau der hausarztzentrierten Verträge. Diese Verträge müssten jedoch mit verbindlichen Qualitätszielen ausgestattet werden. Die bisherigen Verträge verschafften den Ärzten nur mehr Geld, der Nutzen für die Versorgung sei fraglich.

Für eine hausarztzentrierte Versorgung nach den Vorstellungen der Barmer GEK forderte Schlenker Vertragsfreiheit und die Änderung des Paragrafen 73b SGB V. Nicht nur Hausarztverbände und Kassen sollten dabei Partner sein. Zur Sicherstellung der Versorgung müssten die KVen ins Boot genommen werden.

Die Barmer GEK räumt ein, dass es sich bei 18 Patientenkontakten um eine hochgerechnete Zahl handelt. Mit der pauschalierten Vergütung haben die Wissenschaftler den Zugriff auf exakte Daten verloren. Tatsächlich belegt sind für 2008 nur 13,5 Arztkontakte je Versichertem.

Für die Versorgungsforschung sei die pauschalierte Vergütung ohne gezielte Dokumentation grundlegender Leistungsparameter schlecht, so Professor Friedrich-Wilhelm Schwartz, Leiter des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung in Hannover. Sie führe zu Intransparenz. Effekte der Versorgung könnten nicht belegt werden.

Lesen Sie dazu auch: Die Bundesbürger sehen ihre Ärzte immer häufiger

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