ATMP & Seltene Erkrankungen: Innovation in Forschung, Datenerhebung und Nutzenbewertung
ATMPs und Seltene Erkrankungen: Initiativen und Perspektiven der Zulassung
Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs) bilden eine wachsende und innovative Produktklasse, die Gentherapien, somatische Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte umfasst. Sie eröffnen neue Behandlungsmöglichkeiten insbesondere für Patientinnen und Patienten mit seltenen oder schweren Erkrankungen. Mit der zunehmenden klinischen Entwicklung und Zulassung dieser Produkte steigt die Bedeutung angepasster regulatorischer Strukturen und effizienter Bewertungsverfahren. Nationale und europäische Behörden stehen vor der Aufgabe, die Ermöglichung wissenschaftliche Innovation mit hohen Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit zu verbinden. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die rechtlichen Grundlagen, die behördliche Beratungs- und Genehmigungspraxis, die Umsetzung des Medizinforschungsgesetzes sowie aktuelle Maßnahmen zur Harmonisierung und Qualitätssicherung im Bereich der ATMPs.
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Das Paul-Ehrlich-Institut leistet mit seiner Expertise einen entscheidenden Beitrag zur erfolgreichen Entwicklung und sicheren Anwendung von ATMPs in Deutschland und Europa.
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Bedeutung von ATMPs im europäischen Arzneimittelrecht
ATMPs werden seit 2008 durch die Verordnung (EG) Nr. 1394/20071 unionsweit geregelt. Sie stellen eine hochdynamische Produktkategorie dar, die mittlerweile oftmals einen Übergang von konventionellen zu personalisierten Therapien markiert. In den vergangenen zehn Jahren wurden europaweit über 20 ATMPs zugelassen. Hierbei dominierten vor allem CAR-T-Zelltherapien in der Hämato-Onkologie und Gentherapien für seltene genetische Erkrankungen wie zum Beispiel die spinale Muskelatrophie, Netzhautdystrophien oder Hämophilie A/B2.
Anträge auf Marktzulassung werden für ATMPs auf europäischer Ebene, durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) koordiniert und durch die Mitgliedsstaaten unter Einbindung des Committee for Advanced Therapies (CAT), des Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) sowie des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) bewertet. Die Dauer eines vollständigen Zulassungsverfahrens liegt typischerweise bei 12 bis 15 Monaten. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) fungiert als nationale zuständige Behörde für die Bewertung, Beratung und Überwachung von Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMPs) und ist zugleich aktiv in europäischen Expertengremien vertreten.
Im Rahmen der zentralen EU-Zulassungsverfahren hat das PEI bei derzeit insgesamt 21 zugelassenen ATMPs bei 10 die Rolle des Rapporteurs (Rapp) oder Co-Rapporteurs (Co-Rapp) übernommen und war bei 11 weiteren Verfahren als Concerned Member State (CMS) beteiligt. Dieser hohe Anteil an Rapp- bzw. Co-Rapp-Beteiligungen von fast 50 Prozent unterstreicht die zentrale Rolle des Instituts in Europa und seine wissenschaftliche wie regulatorische Expertise im Bereich der neuartigen Therapien.
Beratung und regulatorische Begleitung
Ein zentrales Element der PEI-Arbeit ist die wissenschaftliche Beratung von Unternehmen, akademischen Entwicklern und Kliniken. Diese Beratungen dienen dazu, Studiendesigns, Qualitätsanforderungen und regulatorische Fragestellungen frühzeitig zu klären und so Entwicklungsrisiken zu reduzieren und die Antragstellung für klinische Studien oder Zulassungsverfahren zu bahnen. Die Nachfrage für Beratungsgespräche am PEI und in der für ATMPs zuständige Abteilung Hämatologie, Zell- und Gentherapie (HZG) ist konstant hoch und es wird angestrebt, das Angebot noch auszubauen.
So führte die Abteilung HZG im Jahr 2024 insgesamt 73 Beratungsgespräche durch, ergänzt durch schriftliche Anfragen und externe Fachbegleitungen. Im ersten Halbjahr 2025 wurden bereits 53 Beratungen verzeichnet. Parallel gelang eine deutliche Verkürzung der Wartezeiten, die durch gezielte Priorisierung, Prozesscontrolling und eine engere Abstimmung zwischen internen Fachgruppen erreicht wurde. Trotz gleichbleibender Personalressourcen konnte die Beratungsleistung somit gesteigert werden – ein Beleg für die Effektivität organisatorischer Anpassungen und die hohe Relevanz der Beratungsfunktion für die klinische Entwicklung von ATMPs in Deutschland.
Umsetzung des Medizinforschungsgesetzes (MFG)
Das im Jahr 2024 in Kraft getretene Medizinforschungsgesetz (MFG) hat das Ziel, Genehmigungsverfahren für klinische Prüfungen zu beschleunigen und die Zusammenarbeit zwischen den Bundesoberbehörden zu optimieren3. Für ATMPs bedeutet dies insbesondere:
Verkürzte Bearbeitungsfristen in den Bundesoberbehörden für klinische Prüfungen,
zentrale Koordinierung von Bewertungsprozessen durch das BfArM,
sowie die Einrichtung einer spezialisierten Ethik-Kommission für besondere Verfahren (SEKbV) nach Paragraf 41c AMG. Die SEKbV ist seit dem 1. Juli 2025 für bestimmte klinische Prüfungen zuständig, darunter solche mit neuen Arzneimitteln am Menschen sowie ATMPs4.
Diese strukturellen Maßnahmen sollen Deutschland als Standort für biomedizinische Forschung stärken und die Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Kontext erhöhen.
Harmonisierung und Qualitätssicherung
Das PEI beteiligt sich aktiv an der Weiterentwicklung und Interpretation regulatorischer Grundlagen. Für den Bereich der Guten Herstellungspraxis (GMP) wurde mit der im AMG neu verankerten Regelung (Paragraf 14 Abs. 6 und 7 AMG) die Möglichkeit geschaffen, behördliche Empfehlungen zur Auslegung der GMP-Grundsätze für ATMPs zu veröffentlichen. Ziele bestehen hierbei in einer praxisorientierten, einheitlichen deutschlandweiten Auslegung, die Herstellern und Prüfern mehr Planungssicherheit geben könnte. Ferner fördert das PEI Kommunikation zwischen Aufsichtsbehörden, forschenden Einrichtungen und Herstellern, um eine kohärente Bewertung von Nutzen-Risiko-Profilen sicherzustellen.
Herausforderungen und Ausblick
Trotz der erheblichen Fortschritte in der Entwicklung und Regulierung von ATMPs bestehen weiterhin zentrale Herausforderungen bei der Bewertung von Sicherheit und Wirksamkeit. Insbesondere für seltene Erkrankungen entsteht oftmals ein Spannungsfeld zwischen einem hohen „unmet medical need“, unterschiedlicher Perspektiven auf Produktinnovationen und häufig nur begrenzter klinischer Datenlage. Kleine Patientenkohorten, heterogene Krankheitsverläufe und individuelle Behandlungsansätze können dabei die Durchführung aussagekräftiger Nutzen-Risiko-Analysen erschweren.
Dieses Spannungsfeld ist unvermeidlich, aber produktiv. Der Austausch zwischen Antragstellern und Behörde dient der Schließung von Informations- und Datenlücken, der Verbesserung der Studienqualität und letztlich der Erhöhung der Patientensicherheit. Eine offene und strukturierte Kommunikation, insbesondere im Rahmen frühzeitiger wissenschaftlicher Beratungen, hat sich dabei als nützliches Element für erfolgreiche Genehmigungsprozesse erwiesen. Des Weiteren misst das Paul-Ehrlich-Institut vor diesem Hintergrund der systematischen Evidenzgenerierung im Rahmen klinischer Prüfungen eine zentrale Bedeutung bei. Nur unter kontrollierten Bedingungen lassen sich Daten zu Sicherheit, Wirksamkeit und Dosierung so erheben, dass sie wissenschaftlich valide und reproduzierbar sind.
Demgegenüber sind Erkenntnisse aus Nachbeobachtungen oder Registerdaten häufig weniger strukturiert, heterogen dokumentiert und methodisch schwer vergleichbar. Sie können wertvolle ergänzende Hinweise liefern, ersetzen jedoch keine strukturiert geplante und durchgeführte klinische Prüfung. Eine belastbare Nutzen-Risiko-Bewertung erfordert daher Studiendesigns, die Datenerhebung gezielt ordnen und Verzerrungen minimieren. Mit seiner Rolle als wissenschaftliche und regulatorische Leitbehörde unterstützt das PEI die Weiterentwicklung evidenzbasierter Bewertungsansätze und arbeitet kontinuierlich daran, die methodischen Grundlagen für eine belastbare Nutzen-Risiko-Bewertung von ATMPs zu stärken.
Fazit
Das Paul-Ehrlich-Institut leistet mit seiner wissenschaftlichen und regulatorischen Expertise einen entscheidenden Beitrag zur erfolgreichen Entwicklung und sicheren Anwendung von ATMPs in Deutschland und Europa. Durch Effizienzsteigerungen in der Beratung, neue Instrumente zur Harmonisierung und eine enge Zusammenarbeit mit europäischen Partnern stärkt das Institut die translationale Brücke zwischen Forschung, Zulassung und Nutzenbewertung. Die hier vorgestellten Maßnahmen zeigen, dass regulatorische Innovation und wissenschaftliche Exzellenz Hand in Hand gehen müssen, um die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen nachhaltig zu verbessern.
© Paul-Ehrlich-Institut
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Prof. Dr. Daniel Nowak, Humanmediziner (Approbation 2005, Promotion 2006); Facharzt für Innere Medizin und Hämatologie und Onkologie; Habilitation 2012. 2017 Ruf auf eine W3-Professur für Leukämieforschung an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.
2018-2024 Leiter des Molekularen Tumorboards der Universitätsmedizin Mannheim. Seit 2024 Leiter der Abteilung Hämatologie, Zell- und Gentherapie am PEI.

© Jansen/Paul-Ehrlich-Institut
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Prof. (apl.) Dr. Stefan Vieths, staatlich geprüfter Lebensmittelchemiker (Abschluss Studium 1986, Promotion 1989, Habilitation 1995 an der TU Berlin); 2001 außerplanmäßiger Professor am Fachbereich Biochemie, Chemie und Pharmazie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; 1995 bis 2002 Fachgebietsleiter Entwicklung und Standardisierung, 2002 bis 2007 Abteilungsleiter Allergologie, zusätzlich 2010-2023 Vizepräsident, 2024 kommissarischer Präsident, seit 2025 Präsident des PEI.
Literatur
1 Verordnung (EG) Nr. 1394/2007 über Arzneimittel für neuartige Therapien.
2 https://www.ema.europa.eu/en/documents/committee-report/cat-quarterly-highlights-approved-atmps-may-2025_en.pdf (Stand 14.10.2025).
3 Bundesministerium für Gesundheit (BMG): Medizinforschungsgesetz (MFG), Berlin 2024.
4 https://www.bfarm.de/DE/Das-BfArM/Aufgaben/Spezialisierte-Ethik-Kommission/_node.html (Stand 11.11.2025).


