Abnehmspritzen – es fehlt an Orientierung

Von Prof. Dr. Stephan Martin

Von Abnehmspritzen könnten Millionen adipöse und kranke Menschen in Deutschland profitieren. Viele Fragen zu der Therapie sind aber ungeklärt und es können damit längst nicht alle Probleme gelöst werden. Die neue Option macht eine gesellschaftliche Debatte zum Adipositasproblem und zu generellen Strategien dagegen nicht überflüssig.

Abnehmspritzen – es fehlt an Orientierung

© David Vogt

Die Gesellschaft steht vor einer enormen Herausforderung: Noch nie waren so viele Menschen auf der Welt übergewichtig oder adipös. Gleichzeitig gab es noch nie eine medikamentöse Therapie, die eine substanzielle Gewichtsreduktion mit einem (nach bisherigem Wissen) akzeptablen NutzenRisikoprofil ermöglicht hat. Neben dem Wirkstoff Semaglutid, der zur Behandlung von Typ-2-Diabetes und Adipositas zugelassen ist, ist nun mit Tirzepatid ein weiterer Wirkstoff auf den Markt gekommen. Dieser ist in Deutschland zur Behandlung des Typ-2-Diabetes erhältlich und seit Mitte Dezember auch zum Gewichtsmanagement bei Übergewicht und Adipositas zugelassen.

Wie Semaglutid ist Tirzepatid zur gewichtsreduzierenden Therapie indiziert bei Personen mit einer Adipositas (BMI >30 kg/m2) oder bei Personen mit deutlichem Übergewicht (BMI >27 kg/m2) mit gewichtsbedingten Begleiterkrankungen wie zum Beispiel arterielle Hypertonie, Apnoe-Syndrom, kardiovaskulären Erkrankungen, Prädiabetes und Typ-2- Diabetes. Die Betonung liegt auf „zum Beispiel“ und eröffnet für Verordnende einen gewissen Spielraum, was sie selbst als gewichtsbedingte Begleiterkrankung definieren. Grundvoraussetzung für die Therapie ist aber eine Lebensstil- änderung hin zu gesunder Ernährung und gesteigerter körperlicher Aktivität.

Eine Kostenerstattung dieser Medikamente durch die gesetzlichen Krankenkassen ist aktuell nicht gegeben. Was bedeutet dies für diese Form der Behandlung von Übergewicht und Adipositas in der ärztlichen Praxis? Die bisherige Entscheidungsfindung von Arzt und Patient besteht darin, dass der Arzt dem Patienten Informationen über Erkrankungen oder Risiken gibt und man sich dann gemeinsam zu einer Therapie entscheidet. Bei den neuen Adipositas-Medikamenten wird das anders aussehen: Es kommt ein durch die mediale Aufmerksamkeit informierter Patient und fordert ein Rezept vom Arzt mit dem Argument, dass man es ja sowieso selber bezahle.

Wie geht man mit dieser Forderung um? Man könnte die Entscheidung in die Hände eines Adipositas-Boards legen, vergleichbar zu einem Tumor-Board in der Onkologie. Eine Gruppe von Experten würde entscheiden, ob der Einsatz medizinisch sinnvoll ist. Jedoch erscheint dies bei dem Druck der vielen Betroffenen in der Praxis kaum praktikabel zu sein. Eine weitere Option wäre es, vor dem Ausstellen des Rezeptes eine gewisse Vorleistung der Betroffenen zu fordern. Dies wurde zum Beispiel in der SURMOUNT-3-Studie mit Tirzepatid praktiziert. In die Studie wurden nur Personen aufgenommen, die durch eine Lebensstiländerung bereits ihr Gewicht um 5 Prozent reduziert hatten (Nat Med. 2023; 29: 2909). Mit Erfolg: Nach einer 72-wöchigen Intervention lag die Gewichtsdifferenz zwischen den Teilnehmenden in der Tirzepatid- und in der Placebo-Gruppe bei 25 Prozent.

Wahrscheinlich wird sich die Realität von diesen Expertenüberlegungen aber deutlich unterscheiden! Die Betroffenen werden den Weg des geringsten Widerstands gehen und sich die entsprechenden Rezepte auch bei fachfremden Ärzten holen. Dies ist bereits heute gängige Praxis. Es werden nach kurzen Gesprächen und einer Blutabnahme, die man sich gut bezahlen lässt, und ohne viel Zeit zu verlieren, vorkonfigurierte blaue Rezepte ausgegeben. Bei einem solchen Vorgehen kann man durchaus an der Rezeptpflicht bei diesen Medikamenten zweifeln.

DMP Adipositas ein Papiertiger?

Mitte November 2023 wurde durch den G-BA die Voraussetzungen für das DMP Adipositas geschaffen. Bietet diese neue Struktur im Gesundheitswesen Hilfe für die partizipative Entscheidungsfindung bei den sogenannten Abnehmspritzen? Eine Einschreibung in das DMP ist ab einer Adipositas Grad 2 (BMI >35 kg/m2) möglich. Bei Adipositas Grad 1 (BMI > 30) müssen Komorbiditäten vorliegen wie arterielle Hypertonie oder Typ-2Diabetes.

Anders in den Zulassungen für Semaglutid und Tirzepatid: Diese sind zur Therapie bei Adipositas ab Grad 1 (BMI >30) oder bei Übergewicht (BMI >27) plus Adipositas-bedingte Komorbiditäten vorgesehen. Anders ausgedrückt: Die Hürden für die Abnehmspritzen sind deutlich niedriger als die Hürden zum künftigen DMP Adipositas.

Grundbestandteile des DMP sollen eine ausführliche Anamnese, körperliche Untersuchung und eine größere Laboruntersuchung sein. Es werden die Grundlinien für Schulungsinhalte formuliert, wobei zum jetzigen Zeitpunkt kein Schulungsprogramm existiert, das die Anforderungen erfüllt. Im Bereich der Ernährung werden interessanterweise nicht nur die übliche Low-Fat-Ernährung, sondern auch Low-Carb, mediterrane Kost, aber auch eine Ernährung reich an ungesättigten Fetten und Proteinen genannt.

Weiterhin sollen die Patienten über die Möglichkeit von bariatrischen Operationen aufgeklärt werden, auch wenn diese nicht im Regelkatalog der Krankenkassen enthalten sind und nur nach aufwendigen Einzelanträgen eine Kostenübernahme erfolgt. Für den differenzierten Einsatz von Semaglutid oder Tirzepatid ergeben sich aus der G-BA-Verordnung keine Hilfestellungen, diese Medikamente werden überhaupt nicht in der Verordnung erwähnt.

Als Gamechanger kann man das neue DMP Adipositas daher wohl nicht bezeichnen. Ob es ein Papiertiger wird, bleibt abzuwarten, zumal es ja nur die Grundvoraussetzung für Verträge zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern ist. Ob die gesetzlichen K assen solche Verträge überhaupt schließen werden, bleibt abzuwarten.

Forderungen, die neuen Abnehmspritzen allen adipösen Menschen als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) zur Verfügung zu stellen, sind aufgrund der damit verbundenen Kosten völlig unrealistisch. Ausgehend von einer geschätzten Adipositasprävalenz von etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland und damit über 13 Millionen Betroffenen würde eine solche Kostenübernahme zu Belastungen von jährlich 30 bis 50 Milliarden Euro führen. Zum Vergleich: Das gesamte jährliche Arzneimittelbudget der GKV beträgt bei uns knapp 50 Milliarden Euro. Auch ist zu berücksichtigen, dass nicht jede Adipositas als chronische Erkrankung anzusehen ist, es gibt auch die gesunde Adipositas.

Doch ab wann wäre eine Kostenübernahme durch die GKV sinnvoll? Die Ergebnisse der SELECT-Studie weisen hier auf eine mögliche Indikation hin. Darin hatte Semaglutid bei Menschen mit kardiovaskulären Erkrankungen und ohne Diabetes zu einer 20-prozentigen Reduktion schwerer kardiovaskulärer Ereignisse geführt (N Engl J Med. 2023; online 11. November). Würden diese Ergebnisse in weiteren Studien bestätigt, spräche vieles dafür, die Abnehmspritze jedem Herzkranken mit Adipositas als „5. Goody“ zu ASS, Betablocker, Statin und RAS-Blockade zu geben. Allerdings: Bei jährlich über 40.000 Myokardinfarkten in Deutschland würde allein die Sekundärprävention mit Semaglutid über 100 Millionen Euro kosten. Gegenzurechnen wären hier allerdings Einsparungen durch vermiedene Reinfarkte oder weitere koronare Interventionen.

Was folgt nach Diabetes-Remission?

Eine solche Regelung wirft zudem ethische und praktische Fragen auf. Sollten adipöse Menschen mit hohem kardiovaskulären Risikoprofil erst auf einen Herzinfarkt warten müssen, um die Abnehmspritze zu bekommen? Wird künftig die Diagnose eines Typ-2-Diabetes forciert gestellt, um die Kostenübernahme durch die GKV zu gewährleisten? Wie verhält man sich bei Menschen mit Typ-2-Diabetes, die durch Semaglutid oder Tirzepatid deutlich Gewicht abgenommen haben und zudem HbA1c-Werte im Bereich einer klinischen Remission haben? Setzt man dann die Spritze ab? Entfällt die Kostenübernahme durch die Krankenkassen, wenn die Kriterien eines Typ-2-Diabetes durch eine erfolgreiche Therapie nicht mehr gegeben sind?

Aktuell müssen Menschen ohne Typ-2-Diabetes die Abnehmspritze selbst bezahlen. Künftig könnte dies zu sozialen Ungleichgewichten führen, da sich das nicht alle Menschen leisten können. Allerdings liegen die täglichen Kosten für die Abnehmspritzen im Bereich von ein bis zwei Packungen Zigaretten, die sich ja breite Bevölkerungsgruppen auch leisten.

Es wäre eine Option, dass die Kosten für entsprechende Medikamente außerhalb der Krankenkassen finanziert werden. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Adipositas und Begleiterkrankungen sind sehr hoch und werden in den kommenden Jahren den Fach-kräftemangel verschärfen. Und es ist absehbar, dass immer mehr jüngere Menschen Adipositas-bedingte Komplikationen entwickeln werden. Ob sich die Politik zu weiteren Sondervermögen oder Notlagenverordnungen verleiten lässt, ist sicher fraglich. Wird künftig das Bürgergeld für adipöse Bezieher mit einer entsprechenden Pauschale angehoben, damit keine zu großen sozialen Ungleichgewichte entstehen?

Wie auf den Medien-Hype reagieren?

Der Hype um die Abnehmspritze wurde durch Prominente wie Elon Musk ausgelöst, die ihre erfolgreiche Gewichtsabnahme mit Semaglutid öffentlich gemacht haben. Sollten wir in Kliniken und Praxen als Gegenreaktion die Nebenwirkungen dramatisieren, um eine freizügige Nutzung einzudämmen? Diesen Weg hat Dr. Karl Broich beschritten, der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittelsicherheit und Medizinprodukte (BfArM). Unter dem Titel „Gefährliche Abnehmspritzen – Ich wünsche Elon Musk, dass er keinen Schilddrüsenkrebs bekommt“ hatte er in einem Interview mit „Spiegel online“ angeprangert, dass die „Nebenwirkungen unter den Tisch gekehrt“ würden. Die Aussage zur Krebsgefahr ist dabei (wissenschaftlich betrachtet) grenzwertig. Einige Wochen zuvor hatte die europäische Arzneibehörde EMA gemeldet, dass sie aufgrund der aktuellen Datenlage keinen kausalen Zusammenhang von Semaglutid und Schilddrüsenkrebs sieht.

Sicher müssen wir sorgfältig aufklären. Das Grundproblem der Abnehmspritzen ist, dass sie nur solange wirken, wie man sie anwendet. Werden sie abgesetzt, kehrt die alte Körperfülle zurück. Und noch eine Sorge gibt es: Während bei der durch die Abnehmspritze induzierten Gewichtsabnahme Fett und auch Muskelmasse abgebaut wird, kommt es nach Absetzen nur zu einer Zunahme der Fettmasse. Anders ausgedrückt: Man ersetzt Muskelmasse durch Fett! Diese beiden Punkte müssen zur Warnung ausreichen, denn Semaglutid und Tirzepatid haben im Gegensatz zu früheren Medikamenten zur Adipositasbehandlung nach bisherigem Wissen ein überschaubares Nebenwirkungsprofil.

Für verschreibungspflichtige Arzneimittel darf nach dem Heilmittelwerbegesetz eigentlich nur bei Ärzten oder Apothekern geworben werden. Für viele Publikumsmedien scheint dieses Gesetz keine Rolle zu spielen. In vielen Beiträgen werden die Medikamente als Lösung für alle Gewichtsprobleme angepriesen und Studienergebnisse sowie die Handelsnamen der Medikamente freizügig genannt. Fast jeder Bundesbürger hat daher inzwischen von den neuen Abnehmspritzen gehört.

Selbst renommierte Medien lassen dabei fragwürdige Experten zu Worte kommen. Das begünstigt manchmal sogar ausländische Telemedizin-Anbieter, bei denen man die Abnehmspritzen ohne Rezept aus dem Ausland beziehen kann. So hat die „Rheinische Post online“ kürzlich Ramy Bishay als renommierten Adipositasexperten aus Australien zitiert. Dieser ist aber das Gesicht des Webbasierten Programms Juniper zur Gewichtsabnahme in Amsterdam. Auf der Website reicht es aus, ein paar Fragen zu beantworten, und man erhält für einen entsprechenden Geldbetrag die Abnehmspritzen. Vor Internet-Angeboten sollte man warnen, einige sind sogar kriminell: Bestellt man Abnehmspritzen online, erhält man im günstigsten Fall Placebopräparate und im schlechtesten Fall ungeprüfte und gefährliche Nachahmerprodukte.

Gesellschaftliche Diskussion nötig

Die neue Situation, dass es gegen Adipositas erstmals wirksame Medikamente mit akzeptablem Nutzen-Risiko-Profil gibt, stellt nicht nur Ärztinnen und Ärzte vor große Herausforderungen. In vielen der angesprochenen Problemfelder sind bisher Lösungsansätze nicht in Sicht. Zu wünschen wäre jetzt eine gesellschaftliche Diskussion zu den grundlegenden Ursachen der Adipositasepidemie und den Optionen zur Prävention. Initiativen wie der Ruf nach einer Zuckersteuer greifen hier viel zu kurz. In Ländern mit solchen Steuern ging zwar der Konsum stark zuckerhaltiger Getränke zurück. Deutliche Auswirkungen auf die Gewichtsentwicklung in der Bevölkerung sind aber nicht zu sehen. Und als Zucker-Alternative zu kalorienarmen Süßstoffen zu greifen, ist wahrscheinlich sogar kontraproduktiv. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte kürzlich darauf hingewiesen, dass Süßstoffe möglicherweise die Gewichtszunahme und damit das weltweite Adipositasproblem begünstigen.

Fazit: Das große Interesse an den Abnehmspritzen in den Medien und die riesige Nachfrage verdeutlichen, dass sehr viele Menschen stark unter Übergewicht und Adipositas leiden. Die Betroffenen erhoffen sich nun vor allem auch Rat und Hilfe von ihren Ärztinnen und Ärzten. Mehr Orientierung ist nötig, wem man diese Medikamente verordnen sollte.

Professor Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf.

Abnehmspritzen – es fehlt an Orientierung

© David Vogt