EHEC: Experten zweifeln an neuem Meldesystem

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Vor einem Jahr ist der erste EHEC-Fall aufgetreten. Mit der Krankheitswelle überrollte auch Kritik das deutsche Gesundheitssystem, vor allem die langen Meldezeiten bei Infektionen. Doch die Reform lässt auf sich warten und Experten bezweifeln die Wirkung des geplanten Meldesystems.

BERLIN (dpa). Es war wie ein böser Spuk: Vor einem Jahr beginnt ein aggressiver Typ des Lebensmittelkeims EHEC Deutschland in Angst und Schrecken zu versetzen.

Fast 4000 bis dahin kerngesunde Menschen kommen mit Bauchkrämpfen und blutigem Durchfall zum Arzt, hunderte liegen plötzlich auf Intensivstationen und ringen mit dem Tod.

53 Patienten kostet der mysteriöse und bisher größte EHEC-Ausbruch in Deutschland zwischen Anfang Mai und Anfang Juli 2011 das Leben.

Auch wenn Sprossen aus ägyptischen Bockshornkleesamen-Lieferungen wie in einem Krimi schließlich als Übeltäter überführt werden, offenbart die Krise Lücken im Gesundheitssystem.

Und die Mikrobiologie biete heute mehr Möglichkeiten bei Lebensmittel-Erkrankungen als Deutschland nutze, sagen Experten vom Berliner Robert Koch-Institut (RKI).

Die EHEC-Epidemie trifft vor allem Norddeutschland. Den Beginn des Ausbruchs datiert das RKI auf den 8. Mai in Friesland, danach steigt die Kurve steil an. Am 19. Mai schlägt Hamburg Alarm.

Die Krankenhäuser der Hansestadt behandeln kurz danach 900 Patienten. Ärzte und Pflegepersonal geraten an ihre Leistungsgrenzen. Patienten kämpfen mit immer neuen Symptomen:

EHEC belastet viele Patienten immer noch seelisch

Nierenproblemen oder hämmernden Kopfschmerzen. Bislang traf EHEC vorwiegend Kinder, nun sind es meist gesunde Erwachsene - vor allem Frauen, die sich gesund ernähren.

"Die Schwere der Krankheitsbilder belastete mich", erinnert sich Nierenspezialist Rolf Stahl am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. Noch immer kommen 120 Patienten zur Nachsorge in die Klinik. Sie leiden unter Bluthochdruck, Nierenschäden oder Konzentrationsstörungen.

Viele sprechen nur ungern über ihr Schicksal. "Die Patienten haben zum Teil fürchterlich schreckliche Erinnerungen an diese Zeit", sagt Stahl. "Die psychische Belastung war enorm, das muss man erst einmal verarbeiten." Vielleicht bleiben die Schäden ein Leben lang.

Auch auf politischer Ebene ist die EHEC-Panik in Hamburg noch gut in Erinnerung. "Wochenlang wussten wir nicht: Woher kommt das und wann wird es wieder aufhören", sagt Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD).

Im Vergleich zu früheren EHEC-Ausbrüchen weltweit kann sich das Tempo der Aufklärung - rund drei Wochen - im Rückblick zwar sehen lassen. An der EHEC-Angst ändert das wenig.

Im Februar 2012 sorgt ein neuer Fall in Hamburg für Aufregung. Ein sechsjähriges Mädchen stirbt - aber die Ursache war definitiv ein anderer EHEC-Stamm als die gefährliche und aggressive O104-Kombination während der Epidemie.

"Der Erreger ist vorhanden in der Natur", sagt die Senatorin. "Die Krankheit trat in der Vergangenheit auf und es wird sie auch weiterhin geben - hoffentlich nicht in dem Ausmaß wie im Frühsommer 2011."

Gegen EHEC-Erreger in einer globalisierten Lebensmittelbranche lässt sich in der Tat kaum etwas ausrichten. Verunreinigtes Wasser reicht aus, um fast jedes Lebensmittel zum Träger des Bakteriums zu machen. Verbessern aber lässt sich nach Ansicht von Experten zum Beispiel das deutsche Meldesystem nach dem Infektionsschutzgesetz.

Bisher können zehn Tage vergehen, bis eine Infektion vom Arzt über das Gesundheitsamt an die zuständige Landesstelle und von dort elektronisch an das Robert Koch-Institut in Berlin übermittelt wird. Nur dort gibt es dann den bundesweiten Überblick.

Bundesrat befürchtet mit Gesetz zu hohe Kosten für die Länder

Doch die politischen Mühlen mahlen langsam. Bereits im August 2011 lag ein Gesetzesentwurf für ein schnelleres System vor. Am 9. Februar beschloss der Bundestag dieses Gesetz.

Doch der Bundesrat verlangte am 2. März die Überweisung in den Vermittlungsausschuss. Der Grund: die Kostenbelastung für die Länder. Vor Ende Mai werde das Gesetz nun voraussichtlich nicht in Kraft treten, heißt es beim Bundesgesundheitsministerium.

Dirk Werber, Infektionsepidemiologe am RKI, hält das verbesserte Meldesystem ohnehin nicht für den Königsweg. Schon heute könnten Labore Lebensmittelkeime aus Stuhlproben von Patienten viel präziser bestimmen als sie es oft tun, berichtet er.

Es sei möglich, eine Art genetischen Fingerabdruck eines Erregers zu analysieren. Würde der dem RKI gemeldet, könnte die Bundesbehörde Ausbrüche bundesweit viel schneller orten und einordnen, sagt Werber.

Die USA setzten bereits auf diese "Feintypisierung" - und hätten damit sieben von zehn der größten lebensmittelbedingten Epidemien der vergangenen zehn Jahre entdeckt.

Nach Ansicht der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch hat die Bundesregierung die Epidemie bis heute nur unzureichend aufgearbeitet. Schwachstellen in Lebensmittel-Überwachung und Gesundheitsschutz seien noch nicht beseitigt.

Derzeit EHEC-Meldungen auf Durchschnittsniveau

Doch zumindest vorerst ist der EHEC-Spuk vorbei. Die EHEC-Meldungen liegen im ersten Quartal 2012 auf dem Durchschnittsniveau der Vorjahre. Seit Ende März ist auch der Import von Bockshornkleesamen aus Ägypten wieder erlaubt.

Am Hamburger Uni-Klinikum haben Ärzte aus den schweren HUS-Fällen gefolgert, dass Patienten eine bestimmte Antikörper-Therapie (Eculizumab) hilft, die für dieses Krankheitsbild bisher nicht zugelassen ist. Ende 2012 soll dazu eine Studie publiziert werden.

Von der Epidemie bleibt so nur noch die Schadenersatzklage eines Gemüseproduzenten. Er bezieht sich auf die Warnung vor spanischen Gurken, die vor der Enttarnung der Sprossen kurze Zeit als Ursache im Verdacht standen.

Eine Fehleinschätzung. Hamburgs Gesundheitssenatorin sieht der Klage gelassen entgegen. "Die Gefahr war zu groß", sagt sie.

Lesen Sie dazu auch: EHEC: Genaue Visitenkarte des Erregers für Therapie nach Maß

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