ATMP & Seltene Erkrankungen: Innovation in Forschung, Datenerhebung und Nutzenbewertung
AAV-Gentherapie bei Hämophilie: Klinische Perspektive zu Wirksamkeit, Sicherheit und Implementierung in die Regelversorgung
Die AAV-basierte Gentherapie stellt heute eine wegweisende Therapieoption für erwachsene Patienten mit schwerer Hämophilie und teilweise mittelschwerer Hämophilie dar. Nach über 30 Jahren Entwicklung ermöglichen zugelassene Gentherapeutika eine dauerhafte körpereigene Faktorenexpression und können die Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig verbessern. Gleichzeitig ergeben sich neue Herausforderungen bezüglich regulatorischer Anforderungen, Kostenerstattung und struktureller Umsetzung in der Versorgungsrealität. Die vorliegende Übersicht fasst den aktuellen Erkenntnisstand zur klinischen Wirksamkeit und Sicherheit zusammen und diskutiert die Anforderungen für eine erfolgreiche Implementierung in Deutschland.
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Das Therapieziel einer „funktionellen Heilung“ bei schwerer Hämophilie konnte bislang nicht erreicht werden. Hier setzt die Gentherapie als innovativer Ansatz an.
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Klinischer Bedarf bei schwerer Hämophilie
Die schwere Hämophilie ist gekennzeichnet durch spontane Blutungen, progressive Gelenkschäden und eine deutlich beeinträchtigte Lebensqualität. Trotz erheblicher therapeutischer Fortschritte durch moderne Faktorenkonzentrate und nicht-faktorbasierte Therapeutika wie Emicizumab besteht weiterhin ein erheblicher medizinischer Bedarf. Patienten sind auf häufige intravenöse Infusionen oder subkutane Injektionen angewiesen, wobei eine konsequente Therapietreue erforderlich ist. Erhöhte Faktorwerte sind notwendig, um auch subklinische Blutungen zu verhindern, dennoch kommt es trotz optimaler Behandlungsstandards weiterhin zu Blutungsereignissen. Die Belastung durch chronische Arthropathie führt nicht selten zur Arbeitsunfähigkeit und schränkt die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich ein.
Das Therapieziel einer „funktionellen Heilung“, also einer weitgehenden Normalisierung der Blutungsneigung ohne regelmäßige Substitution, konnte bislang nicht erreicht werden. Hier setzt die Gentherapie als innovativer Ansatz an, der nach einmaliger Gabe eine körpereigene Produktion des fehlenden Gerinnungsfaktors ermöglicht.
Die Entwicklungsgeschichte der Hämophilie-Gentherapie begann bereits 1993 mit den ersten präklinischen Versuchen. Nach verschiedenen Verabreichungswegen wie intramuskulärer und intraarterieller Applikation gelang 2011 der entscheidende Durchbruch mit der ersten erfolgreichen AAV-basierten intravenösen Gentherapie für Hämophilie B. Diese jahrzehntelange Forschungsarbeit mündete schließlich in die ersten regulären Produktzulassungen: 2022 wurde Roctavian® für Hämophilie A zugelassen, 2023 folgte Hemgenix® für Hämophilie B. Im Jahr 2024 erhielt Beqvez®/Durveqtix® als drittes Gentherapeutikum für die Hämophilie die FDA-Zulassung und EMA-Zulassung für Hämophilie B, wurde jedoch nach Zulassung von Pfizer nicht weiter kommerziell angeboten und die Entwicklung wurde 2025 eingestellt. Das Grundprinzip der derzeit zugelassenen AAV-Gentherapien besteht in der einmaligen intravenösen Infusion eines modifizierten Adeno-assoziierten Virus-Vektors, der das intakte Gen für den fehlenden Gerinnungsfaktor primär in die Leber einbringt. Die nachfolgende körpereigene Synthese des Gerinnungsfaktors reduziert oder eliminiert die Notwendigkeit für eine regelmäßige Therapie der Hämophilie.
Langzeitwirksamkeit und Sicherheit bei Hämophilie B
Die Langzeitdaten zur Gentherapie der Hämophilie B sind klinisch relevant: Zehn Männer mit schwerer Hämophilie B, die eine einmalige intravenöse Infusion des Vektors scAAV2/8-LP1-hFIXco erhielten, zeigten dosisabhängige FIX-Aktivitätsspiegel zwischen 1,7 und 4,8 IE/dl über einen Beobachtungszeitraum von bis zu 13 Jahren. Sieben der zehn Teilnehmer kehrten nicht zur prophylaktischen Substitution zurück und entwickelten eine anhaltende Anti-AAV8-Kapsid-spezifische Antikörperreaktion ohne relevante Sicherheitssignale .1
Die Phase-3-Studie HOPE-B mit Etranacogen dezaparvovec umfasste 54 erwachsene Männer im Durchschnittsalter von 41,5 Jahren (Spanne: 19-75 Jahre). 81,5 Prozent hatten eine schwere Hämophilie B (< 1 Prozent), 18,5 Prozent eine mittelschwere Form (1-2 Prozent). Nach 24 Monaten blieben 96 Prozent der Teilnehmer prophylaxefrei mit einer mittleren FIX-Aktivität von 36,7±19,0 Prozent. 60 Prozent der Patientinnen und Patienten hatten nach der Behandlung keine Gelenkblutungen mehr, und 46,3 Prozent erhielten nach der Gentherapie keine FIX-Infusionen mehr. 2
Das Sicherheitsprofil erwies sich als günstig: Infusionsreaktionen traten bei 13 Prozent (n=7) der Teilnehmer auf, ALT-Erhöhungen bei 18,5 Prozent (n=10). Die Transaminasenerhöhungen waren durch Kortikosteroid-Therapie gut kontrollierbar. Schwerwiegende vektorbedingte Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet.
Klinische Ergebnisse bei Hämophilie A
Die Phase-3-Studie zu Valoctocogen roxaparvovec schloss 132 Männer im Durchschnittsalter von 31,4 Jahren (18-70 Jahre) ein.3 Nach fünf Jahren erreichte die Behandlungsgruppe eine mittlere FVIII-Aktivität von 15,9±2,5 IE/dl bei einem Median von 6,2 IE/dl.4 Dies entspricht Faktorwerten im Bereich einer milden Hämophilie. Die Blutungsrate für behandelte Blutungen zeigte eine klinisch relevante Reduktion um 88,1 Prozent. 81,3 Prozent der Teilnehmer verblieben über den gesamten Beobachtungszeitraum ohne prophylaktische Faktorsubstitution. Der Median der jährlichen Blutungsrate lag bei null Ereignissen über alle Beobachtungsjahre hinweg.
Die FVIII-Aktivität zeigte jedoch eine erhebliche interindividuelle Variabilität. Am Ende des vierten Jahres hatten 24 Prozent der Teilnehmer FVIII-Werte unter 5 IE/dl, während 52 Prozent Werte über 5 IE/dl aufwiesen.3 Diese Variabilität unterstreicht die Bedeutung einer individuellen Beratung und eines angepassten Erwartungsmanagements.
In der Phase-3-Studie GENEr8-1 entwickelten 90,3 Prozent der Patienten (121 von 134) ALT-Erhöhungen nach Valoctocogen roxaparvovec-Behandlung. Die meisten ALT-Erhöhungen (85,1 Prozent) traten im ersten Jahr auf, wobei 89 Prozent der Erhöhungen innerhalb der ersten 26 Wochen beobachtet wurden.3 Der Median der Zeit bis zur ersten ALT-Erhöhung betrug 7 Wochen mit einer medianen Dauer von 4 Wochen. Die Langzeitbeobachtung zeigt eine deutliche Abnahme der ALT-Erhöhungsfrequenz nach dem ersten Jahr. Im vierten Jahr traten ALT-Erhöhungen bei 42,7 Prozent der Teilnehmer auf, wobei die meisten Erhöhungen unterhalb der oberen Normgrenze lagen. Wichtig ist, dass im vierten Jahr keine Kortikosteroide zur Behandlung von ALT-Erhöhungen initiiert wurden.
Langzeitsicherheit und Insertionsmutagenese
Molekulare Sicherheitsanalysen zeigen eine geringe genomische Integrationsrate von AAV-Vektoren. Umfangreiche Leberbiopsie-Studien beim Menschen zeigen eine Integrationsfrequenz von lediglich 1-6 Ereignissen pro 1.000 Zellen genomweit.5 Über 99 Prozent der Sequenzierung-Reads entfallen auf episomale oder konkatemere Vektorformen, was für eine überwiegend nicht-integrative Persistenz des Vektors spricht. Wichtig ist, dass keine klonale Expansion oder Anreicherung in der Nähe von Krebsgenen beobachtet wurde.
Bei den bisher gemeldeten Malignomen (Leberzellkarzinom, B-ALL, Schwannom, myelodysplastisches Syndrom) konnte keine Insertionsmutagenese als Ursache identifiziert werden. Die molekularen Analysen zeigten, dass diese Tumoren nicht durch AAV-Insertionen verursacht wurden, was die grundsätzliche Sicherheit des Ansatzes unterstreicht. Dennoch bleibt die 15-jährige Nachsorge essenziell für die langfristige Sicherheitsbewertung.
Strukturelle Anforderungen und regulatorischer Rahmen
Das Hub-and-Spoke-Modell wurde entwickelt, um Gentherapie unabhängig von Zentrumsgröße, Erfahrung oder Verfügbarkeit spezifischer Konsiliardienste zugänglich zu machen.6,7 Dabei übernehmen spezialisierte Zentren (Hubs) die Indikationsstellung und Durchführung der Gentherapie, während die langfristige Nachsorge auch durch qualifizierte Partnereinrichtungen (Spokes) erfolgen kann. Dieses Konzept ermöglicht eine dezentrale Versorgung unter Gewährleistung höchster Qualitätsstandards. Die praktische Umsetzung variiert erheblich zwischen den Ländern, wobei Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich unterschiedliche Ansätze für die Hub-and-Spoke-Modelle entwickelt haben.
Die European Association for Haemophilia and Allied Disorders (EAHAD) hat 2024 ihre Akkreditierungskriterien aktualisiert, um den Anforderungen neuer Therapien gerecht zu werden.8 Die überarbeiteten Kriterien definieren Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität für Hämophiliezentren einschließlich spezifischer Laboranforderungen, Pharmakovigilanz-Systeme und standardisierter Datenerfassung. Mit der ATMP-Qualitätssicherungs-Richtlinie vom März 2024 wurden in Deutschland spezifische Mindestanforderungen für Behandlungseinrichtungen definiert. Zentren müssen mindestens 30 schwere Hämophilie-Patientinnen und -Patienten pro Jahr betreuen, über einen Facharzt mit Zusatzweiterbildung Hämostaseologie verfügen und gastroenterologische Expertise vorhalten. Die strukturierte 15-jährige Nachsorge ist verpflichtend vorgeschrieben.
Nachsorgeeinrichtungen benötigen mindestens 10 Patientinnen und Patienten mit Gerinnungsstörungen pro Jahr und müssen in ein qualitätsgesichertes Netzwerk eingebunden sein.
Implementierung und Erstattungsherausforderungen
Die Gentherapie geht mit erheblichen Einmalkosten einher, die innovative Erstattungsmodelle erfordern. Die Unsicherheit bezüglich Langzeitwirksamkeit und interindividueller Variabilität macht erfolgsbasierte Verträge notwendig. Das Risiko eines Therapieversagens oder einer abnehmenden Wirksamkeit über die Zeit erfordert differenzierte Finanzierungslösungen, die sowohl das Innovationspotenzial würdigen als auch die Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme berücksichtigen. Die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) hat Empfehlungen zur Gentherapie entwickelt, die vorhersehbare Ergebnisse, individuelle Risikoprofile und Patientenpräferenzen gleichermaßen berücksichtigen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Lebergesundheit, dem Immunstatus gegenüber AAV-Vektoren und der psychosozialen Eignung für eine lebenslange Nachsorge.9
Ausblick: Gentherapie im klinischen Alltag 2025
Die AAV-Gentherapie für Hämophilie hat 2025 einen anerkannten Stellenwert in der Behandlung erwachsener Patienten mit schwerer Hämophilie ohne Inhibitoren erreicht. Die langfristige Expression von FVIII und FIX führt zu einer signifikanten Reduktion der Blutungsraten, einer erheblichen Verringerung des Konzentratsverbrauchs und einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität.
Tabelle 1: Die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) hat Empfehlungen zur Gentherapie entwickelt.
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Gleichzeitig bestehen weiterhin Herausforderungen: Die hohen Einmalkosten erfordern innovative Finanzierungsmodelle und erfolgsbasierte Verträge. Die interindividuelle Variabilität der Faktorenexpression macht eine personalisierte Beratung notwendig, und die komplexen Erstattungsmechanismen müssen weiterentwickelt werden. Das Risiko eines Therapieversagens, strukturelle Anforderungen an die Zentren und die Verpflichtung zur 15-jährigen Nachsorge erfordern robuste Netzwerkstrukturen und eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Zukünftige Entwicklungen werden neue Vektorsysteme, optimierte Gentherapie-Ansätze und Gene-Editing-Technologien umfassen. Die erfolgreiche Implementierung erfordert eine enge Verzahnung von klinischer Expertise, regulatorischen Rahmenbedingungen und innovativen Finanzierungsmodellen, um allen geeigneten Patientinnen und Patienten den Zugang zu dieser transformativen Therapie zu ermöglichen.

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Prof. Dr. Wolfgang Miesbach ist Facharzt für Innere Medizin mit einer Zusatzqualifikation in Hämostaseologie an der Medizinischen Klinik des Universitätsklinikums Frankfurt, Deutschland. Er leitet die Abteilung für Hämostaseologie und das Hämophiliezentrum der Medizinischen Klinik 2 des Universitätsklinikums Frankfurt, wo zahlreiche Studien zur Zulassung, Wirksamkeit und therapeutischen Sicherheit neuer Medikamente für Gerinnungsstörungen durchgeführt werden. Er ist Mitglied verschiedener Fachgesellschaften und Editorial Boards wissenschaftlicher Fachzeitschriften.
Literatur
1 Reiss UM, Davidoff AM, Tuddenham EGD et al. Anhaltender klinischer Nutzen der AAV-Gentherapie bei schwerer Hämophilie B. N Engl J Med 2025; 392(22): 2226-2234.
2 Coppens M, Hanley J, Terry G et al. Etranacogene dezaparvovec gene therapy for haemophilia B (HOPE-B): 24-month post-hoc efficacy and safety data from a single-arm, multicentre, phase 3 trial. Lancet Haematol 2024; 11(4): e265-e275.
3 Leavitt AD, Mahlangu J, Raheja P, Symington E, Quon DV, Giermasz A, López Fernández MF, Kenet G, Lowe G, Key NS, Millar CM, Pipe SW, Madan B, Chou SC, Klamroth R, Mason J, Chambost H, Peyvandi F, Majerus E, Pepperell D, Rivat C, Yu H, Robinson TM, Ozelo MC. Efficacy, safety, and quality of life 4 years after valoctocogene roxaparvovec gene transfer for severe hemophilia A in the phase 3 GENEr8-1 trial. Res Pract Thromb Haemost. 2024 Oct 30;8(8):102615. doi: 10.1016/j.rpth.2024.102615. PMID: 39687929; PMCID: PMC11647608.
4 Mahlangu J, Kenet G, Accompanis T et al. Jahr 5-Daten der Phase 3-Studie mit Valoctocogen roxaparvovec bei schwerer Hämophilie A. WFH Congress 2025.
5 Russell CB, Vettermann C, Agarwal S, Witt E, Clark W, Arens J, Fronza R, Obrochta Moss KM, Kasprzyk T, Robinson TM, Tran H, Kenet G, Raheja P, Lester W, Eggan K, Zoog S. Recombinant Adeno-Associated Virus Integration Profiles in Nonhuman Primates and Gene Therapy Participants after Treatment with Valoctocogene Roxaparvovec. Hum Gene Ther. 2025 Jul;36(13-14):945-955. doi: 10.1089/hum.2024.236. Epub 2025 Jun 4. PMID: 40464094.
6 Miesbach W, Chowdary P, Coppens M, Hart DP, Jimenez-Yuste V, Klamroth R, Makris M, Noone D, Peyvandi F. Delivery of AAV-based gene therapy through haemophilia centres-A need for re-evaluation of infrastructure and comprehensive care: A Joint publication of EAHAD and EHC. Haemophilia. 2021 Nov;27(6):967-973. doi: 10.1111/hae.14420. Epub 2021 Sep 22. PMID: 34553460.
7 Miesbach W, Baghaei F, Boban A, Chowdary P, Coppens M, Hart DP, Jimenez-Yuste V, Klamroth R, Makris M, Noone D, Peyvandi F. Gene therapy of hemophilia: Hub centres should be haemophilia centres: A joint publication of EAHAD and EHC. Haemophilia. 2022 May;28(3):e86-e88. doi: 10.1111/hae.14546. Epub 2022 Mar 9. PMID: 35263819.
8 Boban A, Baghaei F, Karin F et al. Accreditation model of European Haemophilia Centres in the era of novel treatments and gene therapy. Haemophilia 2023; 29(6): 1442-1449.
9 Miesbach W, Oldenburg J, Klamroth R, Eichler H, Koscielny J, Holzhauer S, Holstein K, Hovinga JAK, Alberio L, Olivieri M, Knöfler R, Male C, Tiede A. Gentherapie der Hämophilie: Empfehlung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) [Gentherapie der Hämophilie: Empfehlungen der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH)]. Hamostaseologie. Juni 2023; 43(3):196-207. doi: 10.1055/a-1957-4477. Epub 2022 Dez 14. Erratum in: Hamostaseologie. 2023 Jun;43(3):e1.


