Nutzenbewertung

Arzneimittelsicherheit und Gesellschaft – Eine kritische Untersuchung: Relevanz für die heutige Debatte zum „Zusatznutzen“?

Was lässt sich von 1974 für 2024 lernen? Unser Gastautor findet Bezüge aus der Arbeit des Neurologen Dr. Gerhard Kienle für die heutige Nutzenbewertung.

Ein Gastbeitrag von Jörg Ruof Veröffentlicht:
Arzneimittelsicherheit und Gesellschaft – Eine kritische Untersuchung: Relevanz für die heutige Deba

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In seinem vor 50 Jahren publizierten wissenschaftlichen Hauptwerk „Arzneimittelsicherheit und Gesellschaft – Eine kritische Untersuchung“ nimmt der Neurologe und Gründungsvater der Universität Witten/Herdecke Dr. Gerhard Kienle Bezug auf die Thalidomid-Katastrophe (Contergan®) und die damit einhergehenden Änderungen in der wissenschaftlichen Erforschung, Prüfung und Zulassung innovativer Arzneimittel. Auch wenn Teile dieser Ausführungen nicht mehr dem heutigen Stand der Diskussion entsprechen, ergeben sich doch verschiedene Aspekte, die eine vertiefte Reflektion aus aktueller Perspektive rechtfertigen. So wird gleich zu Beginn des Vorwortes klar, dass Kienle, angesichts der Reichweite der Entscheidungen, die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Debatte sieht, die weit über technische Details und Spezifikationen hinausreicht: „Über Arzneimittelsicherheit wird heute viel diskutiert und polemisiert, dagegen sind Grundsatzdiskussionen über diese Fragen fast nicht zu finden“ [S. VII].

In vielerlei Hinsicht stellt der Contergan®-Fall den Ausgangspunkt moderner pharmakologischer Forschungs- und Zulassungsverfahren dar. Das unter anderem als Sedativum in der Schwangerschaft rezeptfrei eingesetzte Thalidomid führte zu schweren fötalen Fehlbildungen mit entsprechenden Langzeitschädigungen der betroffenen Patienten. Die Notwendigkeit einer systematischen Prüfung der Arzneimittelsicherheit wurde somit offensichtlich und unumgänglich. Im Jahr 1961 wurde Contergan® dann zunächst rezeptpflichtig und kurz später ganz vom Markt genommen. Im selben Jahr folgte die Gründung des Bundesministeriums für Gesundheit. Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) wurde als erste Gesundheitsministerin vereidigt. Weiterhin erfolgte 1961 die Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes, welches unter anderem die Registrierung von Medikamenten regelte. Detaillierte Anforderungen an die mehrphasige klinische Prüfung von Sicherheit und Nutzen neuer Arzneimittel wurden dann erst in der Neufassung des Gesetzes von 1976 ausgeführt.

Die oben genannte Publikation zu „Arzneimittelsicherheit und Gesellschaft“ erfolgte 1974 im Kontext der Novellierung des Arzneimittelgesetzes. Das Anliegen der Publikation war umfassend: die Überprüfung der „für die Arzneimittelsicherheit wichtigsten Grundbegriffe und Tatsachen auf ihre wissenschaftliche, menschliche und soziale Gültigkeit“ [VII]. Aus Kienles Sicht müssen nicht nur Arzneimittel, sondern auch die Methoden zur Beurteilung der Arzneimittelsicherheit wirksam und unbedenklich sein.

Anders als bei der Diskussion der 1970er-Jahre stand bei der Einführung des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG) 2011 nicht die Arzneimittelsicherheit, sondern Beurteilung des Zusatznutzens innovativer Medikamente im Mittelpunkt, das heißt der Vergleich des neuen Arzneimittels gegenüber dem gegenwärtigen bestverfügbaren Therapiestandard. Die entsprechenden Nutzenbewertungen obliegen dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und bilden die Grundlage für die nachfolgende Preisverhandlung. Analog zur Beurteilung der Sicherheit von Arzneimitteln gilt hierbei zweifellos, dass die Qualität der Nutzenbewertungen abhängig sind von der „Wirksamkeit“ und „Unbedenklichkeit“ der zugrundeliegenden Methodik.

Beispielhaft sollen im Folgenden wichtige Grundelemente der von Kienle intendierten „Grundsatzdiskussion“ in ihrer aktuellen Relevanz für die AMNOG-Verfahren dargestellt werden:

1) Etablierung und Überwindung wissenschaftlicher Denkkollektive

In Anlehnung an die Arbeiten des in Lemberg (heute Lwiw) geborenen jüdischen Mediziners, Erkenntnistheoretikers und Auschwitz-Überlebenden Ludwik Fleck formuliert Kienle 1982 in seinen Ausführungen zur Frage der Pluralität in der Medizin: „Wir haben Denkkollektive, diese sind beherrscht von bestimmten Denkstilen, die über Annahme oder Verwertung eines Sachverhaltes als wissenschaftliche Tatsache entscheiden.“ Und weiter: „Die herrschende erkenntnistheoretische Position ist als die Intersubjektivitätstheorie der Wahrheit, wie sie insbesondere gegenwärtig von Habermas vertreten wird, zu beschreiben. Danach ist wahr, was in einer diskursfähigen Gemeinschaft gemeinsam einsichtig ist“ (335).

Mit der Einführung des AMNOG wurden die pharmazeutischen Unternehmer (pU) mit der Erstellung des Nutzenbewertungsdossiers inklusive einer Selbsteinschätzung zum Zusatznutzen betraut. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) begutachtet dieses Dossier und schließlich obliegt dem G-BA nach Anhörung der entsprechenden Stellungnahmen seitens der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, der Patientenvertretung und des pU die finale Bewertung des Zusatznutzens. Voraus geht jeweils die entsprechende Interaktion zwischen pU und den Zulassungsbehörden.

Die Etablierung distinkter wissenschaftlicher Denkkollektive ist eine unvermeidbare Konsequenz des komplexen Nutzenbewertungsprozesses. Nahezu regelhaft sind die Einschätzungen des pU hinsichtlich des Zusatznutzens optimistischer als die Begutachtungen des IQWiG. Auch zwischen G-BA und Zulassungsbehörden zeigen sich Diskrepanzen. So gilt bei der Zulassungsentscheidung das progressionsfreie Überleben (PFS) als patientenrelevant, nicht aber im G-BA-Beschluss. Bekannt ist zudem, dass von den 66 (Stand Oktober 2023) innerhalb des G-BA kontroversen AMNOG-Entscheidungen in allen Fällen die „Ärztebank“ des G-BA zu einer positiveren Einschätzung kam als die Kassenseite. Interessant ist dabei, dass sich alle genannten „Denkkollektive“ auf die Grundlagen der Evidenzbasierten Medizin (EbM) beziehen, sich jedoch aufgrund der jeweiligen Perspektive systematisch unterschiedliche Schlussfolgerungen ergeben.

Um über die Positionen der einzelnen Denkkollektive hinaus „eine interdisziplinäre Diskussion über die Bewertungsergebnisse und die angewandten Methoden der Nutzenbewertung“ zu fördern, wurde von Springer Medizin in Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Beirat parallel zur Einführung des AMNOG die Plattform Nutzenbewertung inklusive der begleitenden Publikationsreihe gegründet. Letztendlich ist der „gemeinsame Nenner“ aller Beteiligten dabei, jenseits aller partikularen Denkkollektive, das Bemühen um die kontinuierliche Optimierung der Patientenversorgung.

2) Unklarer Kausalitätsbegriff

In Anlehnung an die platonisch-aristotelische Differenzierung von: „causa formalis“, „causa materialis“, „causa efficiens“ und „causa finalis“ hinterfragt Kienle die gegenwärtig dominierenden Vorstellungen bezüglich der Kausalzusammenhänge von Krankheit und Arzneimittel: „Ein Spezialfall der Therapie, die sich auf die Wirkung von Arzneimitteln stützt, ist die sogenannte kausale Therapie. Dieser Begriff setzt sehr differenzierte Ursachenbegriffe voraus und beinhaltet häufig den Glauben, dass Krankheiten in ähnlichem Sinne verursacht sein könnten, wie man sich in der klassischen Physik kausale Ursachen nach dem Vorbild der Mechanik vorstellt.‘“

Relevanz gewinnt diese Diskussion vor dem Hintergrund der enormen Fortschritte zum Beispiel bei der gezielten Behandlung onkologischer Erkrankungen, die ein bestimmtes molekulares Charakteristikum, das heißt Biomarker, aufweisen oder auch bei den aktuellen Fortschritten im Bereich der Gentherapien. Erscheinen diese zunächst zwar als „kausal“ in das Krankheitsgeschehen einzugreifen, so erlauben Ausmaß und Wirkdauer der beobachteten Effekte bislang nur in Einzelfällen von einer „Heilung“ der zugrundeliegenden Krankheiten zu sprechen. Die wissenschaftliche Vertiefung und Erweiterung der Vorstellungen zur Krankheitskausalität bleibt somit dauerhaft auf der „Research Agenda“ bei der Suche nach innovativen und wirksamen Arzneimitteln. Die bislang vielfach frustranen Forschungsansätze im Bereich der Alzheimer Erkrankung können hierbei beispielhaft genannt werden.

3) Zu den Methoden des Wirksamheitsnachweis

Ausführlich befasst sich Kienle in „Arzneimittelsicherheit und Gesellschaft“ mit den Methoden des Wirksamkeitsnachweises. Zum Zeitpunkt der Publikation, 1974, begann gewissermassen das goldene Zeitalter des „Randomized Controlled Trials“ (RCT). Schon damals weist Kienle auf die inhärenten Limitierungen dieses Erkenntnisinstrumentariums hin. Beispielhaft kann hier die Technik der Randomisierung genannt werden. Ziel derselben ist die Herstellung von Strukturähnlichkeit zwischen Kollektiven, um einen möglichst sachgerechten Vergleich durchzuführen. Aus wissenschaftlicher Perspektive dient dies zweifellos dem Erkenntnisgewinn, allerdings ist unbestritten, dass für jeden „Real World“-Krankheitsverlauf patientenindividuelle Faktoren eine entscheidende Rolle spielen. Diese können gerade für die Perspektive von Arzt und Patient richtungsweisend sein. Kienle nutzt hier wiederholt den Begriff „Reduktionismus“, womit er eben die Ausgrenzung vieler für Patient und Arzt relevanten Komponenten aus der spezifischen wissenschaftlichen Fragestellung des RCT meint.

Die aktuelle Diskussion um „Real World Data“ (RWD) nimmt hierauf Bezug und ergänzt RCTs um stärker kontextuell ausgerichtete Instrumente zu Therapiealgorithmen und -sequenzen. Der gegenwärtige Trend zu immer kleineren, molekulargenetisch spezifizierten Patientenpopulationen erschwert zudem das Bemühen um die Rekrutierung strukturähnlicher Patientenkollektive in ausreichender Grösse für klinische Studien. Entsprechend ist auch auf methodischer Seite ein Innovationsschub erforderlich, um diesen neuen Anforderungen an die klinische Forschung gerecht zu werden. Beispielhaft kann der intraindividuelle Vergleich genannt werden, welcher bei bestimmten Krankheitsbildern, wie zum Beispiel Hämophilie, als vollkommen sachgerecht zu bezeichnen ist. Es bedarf hier keiner Randomisation – es besteht ja, trotz unterschiedlich starker Ausprägung der Symptomatik im jeweiligen Einzelfall, eine prinzipielle Strukturgleichheit des Individuums.

Zusammenfassend möchte man bzgl. der vor 50 Jahren von Kienle angeregten Grundsatzdebatte zur Arzneimittelsicherheit aus heutiger Sicht mit Blick auf die Nutzenbewertung von Arzneimitteln sagen:

  1. der integrative Austausch über etablierte Denkkollektive hinaus,
  2. ein sachgerechtes und vertieftes Verständnis von Krankheit und Krankheitsursachen bzw. der entsprechenden therapeutischen Ansatzpunkte und
  3. Offenheit bzgl. innovativer Methodik, um die Unsicherheit bei der Beurteilung des Zusatznutzens zu adressieren,

sind konstruktive Anregungen, die man dem genannten „historischen Fundstück“ aus 1974 entnehmen kann.

Prof. Dr. med Jörg Ruof, MBA, MPH, ist wissenschaftlicher Leiter der Plattform Nutzenbewertung. Studium an der Universität Witten/Herdecke, Praktische Ausbildung in Innerer Medizin und Rheumatologie an der Medizinischen Hochschule Hannover, Leitung des Market Access / HTA Teams von Roche Deutschland zwischen 2011 und 2016. Gründer der r-connect, Basel.

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