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Berliner Gesundheitspreis 2023

Sozialberatung in der Arztpraxis

Es ist kein Geheimnis: Soziale Belastungen befördern Erkrankungen. Oft aber bleiben hausärztliche Praxen mit dem Problem allein zurück. In mehreren Projekten bekommen sie nun Sozialarbeiter an die Seite gestellt.

Von Frank Brunner Veröffentlicht:
Ausgezeichnetes Projekt: Projektleiterin Martyna Voß vom Verein „Soziale Gesundheit“ zusammen mit dem Bezirksbürgermeister von Berlin-Lichtenberg, Martin Schaefer bei der Verleihung des „Berliner Gesundheitspreis 2023“.

Ausgezeichnetes Projekt: Projektleiterin Martyna Voß vom Verein „Soziale Gesundheit“ zusammen mit dem Bezirksbürgermeister von Berlin-Lichtenberg, Martin Schaefer bei der Verleihung des „Berliner Gesundheitspreis 2023“.

© AOK/Stefan Melchior

Es ist eine erschreckende Zahl: „80 Prozent meiner Patienten haben sozialbedingte Erkrankungen“, sagt ein Hausarzt aus dem Berliner Bezirk Lichtenberg und fügt hinzu: Und diese Patienten werden immer jünger.“ Das Zitat stammt aus einem vergangene Woche veröffentlichten Kurzfilm über das Projekt „Sozialberatung in Arztpraxen“. Wenn er nicht mehr weiterwisse, könnten nur noch Sozialarbeiter helfen, erzählt der Arzt. Lichtenberg, im Osten der Hauptstadt, gilt eigentlich nicht als sozialer Brennpunkt. Doch der Eindruck trügt. Hier wohnen mehr Alleinerziehende, mehr Arbeitslose und mehr ältere Menschen als anderswo. Von den Senioren lebt jeder Dritte allein, jeder Fünfte unterhalb der Armutsgrenze. Für viele von ihnen ist die Hausarztpraxis die wichtigste Anlaufstelle, für manche sogar die einzige.

Deshalb organisiert der Verein „Soziale Gesundheit“ eine Sozialberatung direkt im Sprechzimmer. Neun Hausarzt- und vier Kinderarztpraxen machen bislang mit. Erkennen Mediziner bei ihren Patienten Anzeichen für soziale Probleme, können sie auf die wöchentliche Beratung in ihren eigenen Räumen hinweisen. Manchmal benötigen Eltern Hilfe bei der Kitasuche, Geringverdiener bei Beihilfeanträgen.

Alle unter einem Dach

So wie die ältere Dame, die sich seit Jahren um ihren schwerkranken Ehemann kümmert. Mittlerweile ist sie selbst seelisch und körperlich angegriffen, hinzu kommen Geldsorgen. Als ihr Hausarzt davon erfährt, vereinbart er für sie einen Termin mit den Sozialberatern von „Soziale Gesundheit“. Die Experten organisieren eine Palliativpflege für den Mann, kontaktieren Sozialamt und Wohngeldstelle, während der Arzt die finanziell und psychisch entlastete Ehefrau behandelt. „Ich war von diesem Projekt sofort überzeugt“, so der Lichtenberger Bezirksbürgermeister Martin Schaefer. Ein Erfolgsbaustein sei der Gesundheitsbeirat des Bezirkes – ein Gremium, das Ärzte, Kommunalpolitiker, Klinikvertreter, Pflegeexperten Verwaltungsangestellte und Wissenschaftler an einem Tisch versammelt. Projektleiterin Martyna Voß: „Dadurch können wir im direkten Gespräch mit allen Akteuren schnell die passenden Pakete für die Patienten zusammenschnüren.“

Vernetzung ist auch das Grundprinzip eines Modells, das Stadtteil-Gesundheitszentren in Berlin-Neukölln und Hamburg realisieren. Wie in Lichtenberg folgt die Idee der Erkenntnis, dass sich gesundheitliche und soziale Probleme nicht isoliert betrachten lassen. Um Krankheiten vorzubeugen, Genesung zu unterstützen und die Chronifizierungen zu vermeiden, müssen ärztliche und soziale Unterstützungsangebote ineinandergreifen. Besucher der Stadtteilgesundheitszentren finden alles unter einem Dach: Hausarztpraxis, Pflegeeinrichtungen, psychologische Beratung, Therapieangebote und Sozialarbeiter. Kurze Wege also für alle Ratsuchenden. „Gemeinwesenarbeit“, nennen das die Initiatoren.

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Das Problem mit der Finanzierung

Übergeordnetes Ziel ist es, die Lebensbedingungen im Stadtviertel zu verbessern. Dazu zählt auch, Missstände zu identifizieren: hohe Mieten beispielsweise, Drogenmissbrauch oder Alltagsrassismus. Eine zentrale Verwaltung koordiniert die interprofessionelle Zusammenarbeit, entwickelt Standards für Kommunikation und Dokumentation, steuert die interne Qualitätssicherung und übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit des Zentrums. Es sei ein riesiger bürokratischer Aufwand, sagt Dr. Patricia Hänel vom Stadtteilgesundheitszentrum Neukölln. Denn unterschiedliche Vereine, finanziert aus unterschiedlichen Töpfen, arbeiten zusammen über unterschiedliche Kooperationsmodelle, vernetzen sich außerdem mit Arztpraxen und anderen Akteuren. Gleichzeitig sollen die Menschen das Gefühl haben, Hilfe aus einer Hand zu erhalten, betont Hänel.

Ihr größter Wunsch? Eine sichere Finanzierung, „nicht dieses Projektgefrickel.“ Staatssekretärin Dittmar sagte bei der Verleihung des „Berliner Gesundheitspreises 2023“: Die Stadtteilgesundheitszentren Berlin und Hamburg zeigen, „wie interprofessionelle Zusammenarbeit in benachteiligten und strukturschwachen Stadtteilen gelingen kann“.

Vor allem an Familien richtet sich ein bundesweites Kooperationsnetzwerk. Ziel sei eine „SGB-übergreifende familienorientierte Versorgung für von psychischen und Suchterkrankungen betroffenen Familien.“ Hinter der sperrigen Formulierung verbergen sich oft schwere Schicksale, aber auch Auswege aus scheinbar ausweglosen Lebenslagen. Wie das Beispiel einer alleinerziehenden Mutter zeigt. Sie lebt seit Jahren mit immer wiederkehrenden schweren psychischen Störungen, unter denen auch ihr Sohn leidet. Eine stationäre Therapie lehnt sie ab, weil sie ihr Kind nicht allein lassen will.

Rettungsnetz für Familien

Mitarbeiter vom Kooperationsnetzwerk finden eine Lösung: In Krisenzeiten sorgt eine Pflegefamilie für den Sohn, während die Mutter ambulante und teilstationäre Hilfe in Anspruch nimmt. Zusätzlich kümmert sich ein Erziehungsbeistand der Jugendhilfe um die beiden.

Bundesweit sind Millionen Kinder mit solchen Schwierigkeiten ihrer Eltern konfrontiert. Meist unterstützen unterschiedliche Behörden und Gesundheitseinrichtungen die Familien – allerdings arbeiten Helfer oft nicht zusammen, sondern nebeneinander her. Schwierig bei komplexen Problemen. Aus diesem Grund haben sich medizinische Fachgesellschaften, Selbsthilfeorganisationen und Wissenschaftler zum Kooperationsnetzwerk zusammengeschlossen. So vermeiden alle Beteiligten Reibungsverluste. Eine der Beteiligten ist Dr. Rieke Oelkers-Ax von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie sagt: „Viele betroffene Familien und vor allem die Kinder, haben nur eine schwache oder gar keine Lobby.“ Um diese Menschen zu erreichen, helfe es nur, quer über die Grenzen der Sozialgesetzbücher hinweg zusammenzuarbeiten. Mitstreiterin Claudia Langholz, von der Diakonie Schleswig-Holstein hebt hervor: „Wir freuen uns über jedes Leuchtturmprojekt, aber das ist nicht unser Ziel.“ Ziel sei eine flächendeckende Verbesserung der Situation von betroffenen Familien.

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