Strategien gegen Hypertonie
„Unser Organismus ist evolutionär auf Bewegung gepolt“
Regelmäßige Bewegung kann den Blutdruck ähnlich wirksam senken wie Medikamente. Lars Gabrys, Professor für Gesundheitssport und Prävention, über Strategien zur Verhaltensänderung, digitale Hilfen und Ansätze für die hausärztliche Praxis.
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Kann Bewegung wie eine „Polypille“ wirken? Prof. Lars Gabrys meint ja, denn sie sei eine Intervention, die positiv bei nahezu allen chronischen Erkrankungen wirke, das Leben verlängere und darüber hinaus die körperliche Funktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit verbessere.
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Herr Professor Gabrys, langes Sitzen gilt mitunter als „das neue Rauchen“. Wie bewerten Sie diese Einschätzung?
Jeder weiß, dass Rauchen schädlich ist. Weniger bekannt ist, dass auch der weitverbreitete Bewegungsmangel – wenn auch auf andere Weise – massive gesundheitliche Folgen haben kann. Zahlreiche epidemiologische Studien belegen dies. Der Vergleich mit dem Rauchen soll genau das verdeutlichen. Unser Organismus ist evolutionär auf Bewegung gepolt. Bleibt sie dauerhaft aus, entstehen Schäden. So sind zahlreiche chronische Erkrankungen mit körperlicher Inaktivität assoziiert. Dazu gehören Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen, Krankheiten des Muskel-Skelett-Apparats, der Atemwege, aber auch psychische Erkrankungen wie Depressionen und die Stoffwechselerkrankung Diabetes mellitus Typ 2.
In Fachkreisen ist häufig von Bewegung als einer Art „Polypille“ die Rede. Was steckt dahinter?
Durch Bewegung lässt sich das Risiko für die genannten Erkrankungen senken beziehungsweise die Therapie unterstützen. Wir haben also eine Intervention, die positiv bei nahezu allen chronischen Erkrankungen wirkt, das Leben verlängert und darüber hinaus die körperliche Funktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit verbessert. Gäbe es ein solches Medikament, würde es wohl jeder Arzt verschreiben. Das ist mit dem Begriff der Polypille gemeint.
Dabei geht es nicht nur um Sport – dieser ist nur ein Teil der körperlichen Aktivität. Darunter subsumiert sich viel mehr: Bewegung in der Freizeit, wie Spazierengehen oder Gartenarbeit. Aber auch „körperliche Aktivität zum Transport“ – so nennen wir das in der Public Health-Forschung – also das Zurücklegen von Wegen zu Fuß oder mit dem Fahrrad sowie der Klassiker: Treppensteigen statt Fahrstuhl. Entscheidend ist, viele dieser kleinen Aktivitäten über den Tag zu sammeln, um auf ein ausreichendes Maß an Bewegung zu kommen.
In den Leitlinien zur Hypertoniebehandlung wird Bewegung als zentrale Maßnahme empfohlen. Welche Effekte auf das Herz-Kreislauf-System sind wissenschaftlich belegt?
Zur Wirksamkeit von körperlicher Aktivität gibt es zahlreiche Übersichtsarbeiten, beispielsweise den US-amerikanischen Physical Activity Guidelines Advisory Committee Report. Dieser geht aktuell davon aus, dass das Risiko zur Entwicklung einer Hypertonie durch Bewegung um 33 Prozent gesenkt werden kann.
Die Studienlage zeigt außerdem: Regelmäßige körperliche Aktivität kann den Blutdruck in einem Ausmaß senken, das mit einer Standardmedikation vergleichbar ist. Im Durchschnitt sind systolische Blutdrucksenkungen von 5 bis 8 mmHg nachgewiesen, in einzelnen Studien sogar bis zu 15 mmHg. Der diastolische Wert sinkt im Mittel um 4 bis 6 mmHg. Besonders im Bereich milder Hypertonie – also im Übergang zwischen normotensivem und hypertensivem Blutdruck – stellt Bewegung eine wirksame nichtmedikamentöse Interventionsform dar, um erhöhte Werte zu normalisieren und langfristig zu stabilisieren. Die Trainingsreize führen zu einer Ökonomisierung der Herzarbeit, einer verbesserten Entspannungsfähigkeit der Blutgefäße sowie einem vergrößerten Schlagvolumen durch eine gesteigerte Kontraktilität der Herzmuskulatur. Langfristig bewirkt das eine Reduktion der Ruheherzfrequenz. Regelmäßiges Training reduziert außerdem die Blutfettwerte, ist also auch ArterioskleroseProphylaxe.
Welche Bewegungsformen sind besonders geeignet bei Bluthochdruck?
Bei Bluthochdruck empfiehlt die nationale Versorgungsleitlinie moderate körperliche Aktivität von mindestens zwei Stunden. Das ist vor allem durch einen aktiven Lebensstil umsetzbar, im besten Fall aber auch durch gezieltes Training. Denn eine gesteuerte Belastung löst bessere Anpassungsreaktionen im Körper aus – und damit zusätzliche gesundheitliche Effekte auf das Herz-Kreislauf-System. Betroffene sollten regelmäßige Sporteinheiten in ihren Alltag integrieren. Perfekt wäre eine Kombination aus moderatem Ausdauer- und Krafttraining mit maximal zehn bis 15 Wiederholungen am Stück. Das bedeutet einen Einsatz zwischen 50 und 70 Prozent der maximalen Kraftfähigkeiten. Als Hilfsmittel können dafür etwa kleine Gewichte oder Fitnessgeräte dienen.
Spannend ist eine Meta-Analyse des British Journal of Sports Medicine, die 270 randomisiert kontrollierte Studien zum Thema Trainingsmodalität und Bluthochdruck untersucht hat. Dabei kam heraus, dass isometrisches Krafttraining den höchsten blutdrucksenkenden Effekt hat – also typische statische Haltearbeit wie der Wandsitz. Es ist gegebenenfalls noch zu früh, dies in die Behandlung einzubinden, zeigt aber, dass die Empfehlungen möglicherweise abgeändert werden müssen.
Viele Patientinnen und Patienten tun sich schwer, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Welche Strategien haben sich bewährt?
Chronische Erkrankungen betreffen meist das höhere Lebensalter. Das heißt, die Betroffenen waren häufig bereits längere Zeit körperlich inaktiv, haben vielleicht keine große Bewegungshistorie oder schlechte Erfahrungen gemacht. Um sie nicht zu überfordern, ist ein sanfter Einstieg wichtig. Zudem sollte Bewegung Spaß machen. Nur dann bleiben Menschen langfristig und regelmäßig am Ball. Gleichzeitig spielt auch der Zeitaspekt eine Rolle. Umso wichtiger ist ein realistischer Bewegungsplan sowie sogenannte „Wenn-dann-Pläne“, das heißt: „Was mache ich, wenn das Training einmal nicht klappt?“ Ob Nordic Walking, Fahrradfahren, Schwimmen: Die Art des Ausdauertrainings ist relativ egal. Wichtig ist eine moderate Belastung von rund 30 Minuten pro Einheit mit einer wöchentlichen Trainingszeit nach WHO-Empfehlungen von 150 Minuten. Wenn dies am Anfang nicht gleich klappt und eine Überforderung darstellt, ist das nicht schlimm. Man kann auch mit kleineren Umfängen starten und sich peu à peu steigern. Wichtig ist, dass man anfängt.
Der Herzschlag darf sich erhöhen, auch die Atemfrequenz und -tiefe. Aber eine Unterhaltung sollte noch möglich sein. Wenn sich durch das Training nach einer Zeit erste Anpassungsreaktionen zeigen – die Betroffenen zum Beispiel wieder leichter die Treppe hochkommen – ist der Anfang geschafft.
Sie begleiten den Online-Coach Bluthochdruck der AOK fachlich. Er umfasst neben anderen Lebensstilinterventionen, wie Ernährung und Stressreduktion, auch ein Bewegungsmodul. Wie ist dieses aufgebaut?
Im Bewegungsmodul bilden wir eine realistische Coachingsituation ab. Es beginnt mit einer kurzen Anamnese anhand eines Tests, um zu ermitteln, wie viel die Person sich bereits bewegt, aber auch um nach Kontraindikationen zu fragen. Darauf aufbauend kann ein passender Bewegungsplan, das heißt ein gezielter Wochenplan, angelegt werden.
Das Modul orientiert sich an den Aktivitätsempfehlungen der WHO: Ziel eins ist das Erreichen von 150 Minuten moderater Aktivität pro Woche. Anschließend kombinieren wir diese mit Muskelkräftigung. Dafür geben wir auch Übungsbeispiele und Informationen rund ums Thema. Der Bewegungsplan lässt sich nach einem Update des Coaches individuell anpassen. Die Nutzerinnen und Nutzer haben eine Tagebuch-Funktion, können tatsächlich absolvierte Aktivitäten eintragen und Trainingsziele im Blick behalten.
Derzeit evaluiert eine Doktorandin das Nutzungsverhalten und die Effekte des Online-Coaches in einem Forschungsprojekt.
Wie können Ärztinnen und Ärzte Betroffene wirksam zu mehr Bewegung motivieren?
Die Ärzteschaft ist primärer Ansprechpartner in sämtlichen Gesundheitsfragen – auch zur körperlichen Aktivität. Jedoch kann es eine Herausforderung sein, dies im schnelllebigen Praxisalltag umzusetzen. Aber es gibt wirksame Ansätze zu einer ärztlichen Kurzintervention oder -beratung, um die Patientinnen und Patienten zu motivieren. Dies kann durch den Verweis auf Anbieter vor Ort, wie Sportvereine, oder Kurse und Präventionsangebote der Krankenkassen erfolgen. Es gibt zum Beispiel die Initiative „Rezept für Bewegung“. Das ist kein Rezept im klassischen Sinne, aber eine konkrete ärztliche Empfehlung für mehr Aktivität.
Digitale Angebote, wie Online-Coaches oder digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind dabei sicherlich eine gute Ergänzung. Wichtig ist, die Bereitschaft der Patientin oder des Patienten, mitzumachen.
Nicht immer ist eine solche Beratung zeitlich möglich. Ich engagiere mich im Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung. Dort plädieren wir dafür, Hausarztpraxen stärker mit der Bewegungsprofession zu verlinken. Denn solch eine strukturierte Bewegungsversorgung wäre sowohl aus präventiver als auch aus therapeutischer Sicht sinnvoll.
Vielen Dank für das Gespräch!