Interview
„Versorgungsqualität ist mehr als pflegerisches Handeln“
Der Qualitätsatlas Pflege des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt große Unterschiede in der Versorgungsqualität. Susann Behrendt, WIdO-Forschungsbereichsleiterin Pflege, erläutert die Möglichkeiten der Datenauswertung und die Vorteile für Patienten, Pflegepersonal und Hausärzte.
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Das WIdO hat die Dauermedikation mit Beruhigungs- und Schlafmitteln in Pflegeheimen untersucht.
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Für die aktualisierte Ausgabe des Qualitätsatlas Pflege hat das WIdO drei Schwerpunkte beleuchtet: die Dauermedikation mit Beruhigungs- und Schlafmitteln, die Stürze bei Risikomedikation und die Anzahl der Pflegeheimbewohner mit Diabetes ohne augenärztliche Vorsorge. Warum haben Sie und Ihr Team sich auf diese Kategorien fokussiert?
Grundsätzlich basiert der Qualitätsatlas Pflege auf der Prämisse, dass Versorgungsqualität weit mehr ist als ein Ergebnis pflegerischen Handelns. So sind an der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung, Betreuung und Begleitung zahlreiche Akteure direkt beteiligt. Deshalb messen die zehn QCare-Indikatoren, die Versorgungsqualität auf Grundlage von AOK-Routinedaten abbilden, berufsgruppen- und sektorenübergreifend an drei Schnittstellen: „Prophylaxe und Prävention“, „Arzneimittelversorgung“ sowie „Krankenhausaufenthalte“. Für die aktualisierte Fassung haben wir drei Indikatoren ausgewählt, die jeweils einer Schnittstelle zugeordnet sind.
Können Sie diese Zuordnung genauer erläutern?
Die Dauermedikation von Beruhigungs- und Schlafmitteln ist ein Indikator für kritische Arzneimittelversorgung. Eine fehlende augenärztliche Vorsorge – das heißt, ein jährlicher augenärztlicher Kontakt – tangiert die Schnittstelle fehlende Prophylaxe und Prävention. Der Sturzindikator liefert Hinweise auf potentiell vermeidbare Krankenhausaufenthalte. Den ersten Indikator, die Dauermedikation von Beruhigungs- und Schlafmitteln, hatten wir schon beim Launch 2023 herausgegriffen. Die anderen beiden Indikatoren waren ebenso 2023 Teil des Onlineangebots, wurden von uns aber nicht explizit thematisiert.
Welche Erkenntnisse lassen sich aus den neuen Daten ableiten?
Eine wichtige Erkenntnis ist: Die Versorgungsqualität bei Pflegeheimbewohnenden variiert weiterhin regional deutlich. Diese räumlichen Verteilungsmuster werfen eine Vielzahl von Fragen auf.
Zum Beispiel?
Welche regionalen Strukturen führen dazu, dass Pflegebedürftige, je nachdem, wo sie leben, so unterschiedlich von kritischer Versorgung betroffen sind? Ist es fehlendes Know-how oder sind es fehlende Kompetenzen und Kapazitäten hinsichtlich der Leitlinien und Standards, die in der Regel mit den Indikatoren assoziiert sind? Ist es Personalmangel? Die fehlende Kooperation mit Ärztinnen und Ärzten vor Ort? Oder sind es fehlende Mediziner? Welchen Einfluss haben die regionalen Krankenhausstrukturen oder Hospizangebote? Der Qualitätsatlas Pflege lässt diese Fragen unbeantwortet. Seine Aufgabe ist lediglich, regional differenziert Transparenz zu schaffen, Impulse zu setzen und Aufmerksamkeit auf fehlende, potenziell kritische, beziehungsweise vermeidbare Versorgungsaspekte zu richten.
Wie kann eine stärkere Aufmerksamkeit für die genannten Aspekte erreicht werden?
Die Ergebnisse liefern Impulse, damit Pflegeeinrichtungen, Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, Krankenhäuser, Apotheken und Kommunen ins Gespräch kommen, die Ergebnisse bestenfalls gemeinsam zu bewerten und Verbesserungspotentiale auszuloten. Optimierte Prozesse verbessern nicht nur die Versorgung der Betroffenen, sondern entlasten auch Ärzte und Pflegepersonen. Es gilt, räumliche Verteilungsmuster inhaltlich zu entschlüsseln und in den einzelnen Regionen die Resultate mit den Verantwortlichen der Gesundheitspolitik auf Ebene des Bundes, der Bundesländer, der Landkreise, Städte und Gemeinden auszuwerten. Außerdem ist die Wissenschaft gefragt. Und nicht zuletzt erhoffen wir uns von unserem aktuellen Projekt QCare Transfer, dass die QCare-Indikatoren in Studieneinrichtungen pilotiert und zusätzlich mit Hausärztinnen und Hausärzten diskutiert werden.
Was unterscheidet den Qualitätsatlas Pflege von anderen Qualitätsindikatoren?
Zunächst die bereits erwähnte Prämisse, Versorgungsrealität umfassender, also über Berufsgruppen und Sektorengrenzen hinweg zu betrachten. Außerdem ist uns wichtig, dass die Routinedaten, die wohlgemerkt nicht durch Einrichtungen erhoben werden müssen, Transparenz schaffen – zu Aspekten, zu denen bisher keine flächendeckenden, regelmäßigen Erkenntnisse vorlagen. Die Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR) für die Krankenhausversorgung existiert seit vielen Jahren. Es lag nahe, ein ähnliches Verfahren für pflegebedürftige Menschen zu entwickeln.
Gibt es Überlegungen, die Zahl der QCare-Indikatoren zu erhöhen?
Das wissenschaftlich fundierte QCare-Indikatorenset wird weiterwachsen. Es gibt eine Reihe relevanter Themen, bei denen zunächst zu prüfen ist, ob sie belastbar routinedatenbasiert messbar sind. Außerdem – und das ist ganz wichtig – sollte der Indikator, das heißt das zugrunde liegende Versorgungsthema, auch tatsächlich relevant und beeinflussbar sein. Der Indikator zur Grippeschutzimpfung wird sicher einer der nächsten Parameter sein.
Alle QCare-Indikatoren, die im Qualitätsatlas Pflege visualisiert sind, liegen auch auf Ebene der einzelnenPflegeeinrichtungen vor. Warum wurden diese Daten bislang nicht veröffentlicht?

Susann Behrendt ist Forschungsbereichsleiterin Pflege beim WIdO.
© AOK-BV
Zuvor geht es aber um den Nutzen der QCare-Informationen für das interne Qualitätsmanagement der einzelnen Pflegeheime. Deswegen evaluiert das WIdO seit April 2024 in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Hochschule Brandenburg CAMPUS, dem aQua-Institut und der AOK Bayern die QCare-Indikatoren in dem Innovationsfonds-Projekt QCare Transfer.
Können Sie QCare Transfer genauer beschreiben?
Bis September 2027 pilotieren wir die QCare-Indikatoren in Pflegeeinrichtungen in Bayern. Die teilnehmenden Pflegeheime erhalten über eine eigens entwickelte und zugangsgeschützte Webplattform ihre eigenen Qualitätsergebnisse und können sich mit den anonymisierten Ergebnissen der Einrichtungen ihres Regierungsbezirks, Bayern- und bundesweit vergleichen. Außerdem lässt sich die Ergebnis-Entwicklung für den Zeitraum 2017 bis 2023 beobachten. Ungefähr die Hälfte der teilnehmenden Pflegeheime diskutieren ihre Ergebnisse mit Hausärztinnen und Hausärzten in Qualitätszirkeln. Insgesamt zielt das Projekt damit auf die Chancen und Barrieren der berufsgruppenübergreifenden Auseinandersetzung und auf mehr Transparenz, Diskurs und Awareness im Sinne einer optimierten Versorgung im Pflegeheim.
Vielen Dank für das Gespräch!