Kooperation | In Kooperation mit: AOK Bundesverband

Selbstbestimmtes Leben

Zu Hause wohnen – auch mit Demenz

Rund 1,7 Millionen Demenzkranke gibt es in Deutschland, jährlich kommen nach Daten des Bundesforschungsministeriums weitere 300 000 dazu. Mit ihrer „Musterwohnung Demenz“ unterstützt die AOK Rheinland/Hamburg Pflegende dabei, das Lebensumfeld ihrer an Demenz erkrankten Angehörigen sicher, hilfreich und liebevoll zu gestalten.

Von Taina Ebert-Rall Veröffentlicht:
Blick in die „Musterwohnung Demenz“: Welche Hilfsmittel erleichtern Erkrankten den Alltag? Stefanie Froitzheim und ihr Team geben Angehörigen Tipps.

Blick in die „Musterwohnung Demenz“: Welche Hilfsmittel erleichtern Erkrankten den Alltag? Stefanie Froitzheim und ihr Team geben Angehörigen Tipps.

© AOK Rheinland/Hamburg

Jülich. Schaukelstuhl, Standuhr, Häkeldeckchen: Die Gestaltung der Musterwohnung Demenz der AOK Rheinland/Hamburg in Jülich erinnert an frühere Zeiten. Hier dreht sich alles darum, dass Menschen mit Demenz trotz gesundheitlicher Einschränkungen möglichst lange selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden verbleiben können. Wie dies möglich ist, erfahren insbesondere pflegende Angehörige bei einem Besuch der Musterwohnung und erhalten hier jede Menge hilfreiche Tipps – auch zur eigenen Entlastung.

„Unser kostenfreies Angebot wird sehr gut und überregional genutzt. Bereits über 2000 Ratsuchende haben das Schulungsangebot im Rahmen der Musterwohnung Demenz besucht“, sagt Stefanie Froitzheim. Sie leitet die Servicestelle Demenz der AOK Rheinland/Hamburg, zu der die Musterwohnung in Jülich gehört.

1,7 Millionen Demenzkranke

Immerhin 1,7 Millionen Menschen mit Demenz leben nach aktuellen Angaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Deutschland. Ihre Zahl wird sich bis 2050 nahezu verdoppeln, denn jährlich kommen rund 300.000 Fälle hinzu. Den Herausforderungen, die mit der Versorgung dieser besonderen Bevölkerungsgruppe verbunden sind, stellt sich die AOK Rheinland/Hamburg seit vielen Jahren. Die Krankenkasse hat eigens hierfür die Servicestelle Demenz ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Pflegeberatung zu verbessern und weiterzuentwickeln. Exemplarisch hierfür steht die „AOK-Musterwohnung Demenz“.

Ein Team von acht Fachberatern betreut die Wohnung und führt Betroffene und pflegende Angehörige sowie viele andere Interessierte durch die liebevoll und mit viel Sachkenntnis gestalteten Räume. „Die Musterwohnung ist einer durchschnittlichen Wohnung nachempfunden, also realitätsnah konzipiert. Dies regt zum Umsetzen des Erlernten im eigenen Zuhause an“, erläutert Froitzheim. „Dabei lernen wir selbst auch ständig dazu. Denn unsere Besucher berichten von Problemen im Umgang mit ihren demenziell veränderten Angehörigen, für die wir im Gespräch häufig gemeinsam Lösungen entwickeln.“ Diese Erkenntnisse fließen anschließend wieder in die Beratung ein.

Viele Beispiele für sicheres Wohnen

Beispiele für ein sicheres Umfeld für Menschen mit Demenz kann Stefanie Froitzheim viele nennen. Etwa eine mit Bildfolie als Bücherwand „getarnte“ Tür, die Betroffene wegen möglicher Sturzgefahr davor bewahren soll, beispielsweise Richtung Kellertreppe zu gehen. „Wir sollten dabei aber nicht die Grenze zur Einschränkung eines Menschen überschreiten“, warnt die Expertin. „Es geht um Sicherheit und Halt in der vertrauten Umgebung. Viele unserer Lösungsansätze sind klein, aber sorgen für einen großen Effekt und tragen zu einem Wohnen im vertrauten Umfeld bei.“ Dazu gehören auch lieb gewonnene Möbelstücke, die Sicherheit und Wohlbefinden auslösen. Ein Schaukelstuhl kann, so beschreiben es die Fachberater in der Musterwohnung, Menschen mit erhöhtem Bewegungsdrang beruhigen, braucht allerdings einen festen Stand, um Stürze zu vermeiden. Symbolaufkleber auf Schrankfächern oder -türen können gute Dienste zum Auffinden von Alltagsgegenständen leisten, auf Glasscheiben aufgebrachte Sicherheitsfolien vor möglichen Schnittverletzungen schützen.

Hinweisschilder in der Küche, etwa mit dem Hinweis, den Herd auszuschalten, dienen der zusätzlichen Sicherheit – jedenfalls solange die Demenz noch nicht allzu weit fortgeschritten ist.

Klare farbliche Grenzen sorgen im Bad dafür, dass etwa der Rand der Badewanne, der Toilette oder des Waschbeckens leichter erkannt wird. „Wichtig ist es, den Menschen mit Demenz dort abzuholen, wo er sich in seiner Lebenswelt befindet.“ Hier sind auch klassische Armaturen mit zwei Temperaturreglern hilfreich. Stefanie Froitzheim berichtet: „So war das früher nämlich auch. Ein roter Regler für Heißwasser, ein blauer für kaltes Wasser. Daran können sich viele noch erinnern.“

„Gut 90 Minuten sollten sich unsere Besucher für die Besichtigung der Wohnung schon Zeit nehmen“, sagt die Initiatorin. Schließlich beraten die Fachberater der Servicestelle die Besucher individuell, nehmen sich Zeit für jedes Gespräch und beachten die Besonderheiten der jeweiligen Situation. Auch über technische Hilfssysteme wie beispielsweise „intelligente Fußleisten“, Falldetektoren bis hin zu GPS-Systemen können sich die Besucher der Wohnung informieren.

Erleben, wie sich Demenz anfühlt

Die Schulung größerer Gruppen dauert in der Regel bis zu drei Stunden und setzt besonders auf interaktive Impulse in der Wissensvermittlung. In Rollenspielen können Teilnehmende erfahren, wo die Probleme für die Betroffenen liegen, wenn sie weiterhin zu Hause leben und warum ein demenzfreundliches Wohnumfeld so wichtig ist. Außerdem lernen sie, adäquat mit demenziell veränderten Menschen zu kommunizieren. Um das Verständnis für die Situation und die Gefühlslage der Erkrankten zu fördern, werden unterschiedliche Demenzsimulationen genutzt, um Alter(n) erlebbar zu machen. Stationen eines Demenz-Erfahrungsparcours mit unterschiedlichen Alltagssituationen runden das Schulungsangebot ab. Die Leiterin der Servicestelle weiß: „Es ist eine spannende und sehr herausfordernde Erfahrung zu erleben, wie sich Demenz anfühlen kann. Vieles, das für Gesunde selbstverständlich ist, ist für erkrankte Menschen nämlich überhaupt nicht leicht.“

Der Anstoß für die Entwicklung der Demenzwohnung war der Welt-Alzheimertag im Jahr 2016. Für einen auf zehn Tage ausgelegten Zeitraum wurde die damals viel kleinere Ausführung der Musterwohnung Demenz konzipiert. „Das Interesse der Ratsuchenden während dieses Zeitraumes war jedoch so groß, dass wir am Ende noch über 400 Interessenten auf der Warteliste für einen Besuch der Musterwohnung vermerken durften. Die überaus große Nachfrage war für uns der Anlass, den Vorstand der AOK Rheinland/Hamburg für die Fortführung dieses besonderen Schulungs- und Beratungsangebotes zu ermutigen. Diesem Vorschlag wurde zugestimmt. Seit dem 2. Januar 2017 hat sich die Musterwohnung Demenz als dauerhaftes Schulungsangebot in der AOK Rheinland/Hamburg etabliert und entwickelt seitdem eine unglaubliche Dynamik.“

Auch mit wenigen Mitteln möglich

Und so entstand nach Beschreibung der Servicestellen-Leiterin die heutige Musterwohnung Demenz. „Wir haben mit großem Engagement Möbel mit Erinnerungen gesucht und in vielen Haushaltsauflösungen die ‚Schätzchen‘ gefunden, die wir jetzt auf 120 Quadratmetern zeigen können. Schränke, Tische, Sessel und ein Sofa, Bilder, ein Radio, eine Schreibmaschine und sogar ein altes, grünes Schnurtelefon mit Wählscheibe haben wir zusammengetragen.“ Bei der Gestaltung der Wohnung konnten sich die insgesamt zwölf engagierten Beschäftigten der Servicestelle auf ihre Erfahrungen aus inzwischen rund 48 000 Telefonberatungen stützen. Denn dabei geben sie nicht nur gute Tipps, sie hören auch zu und erfahren viel über die Nöte und Bedürfnisse der Menschen. So entwickelte sich nach und nach das Wissen um große und kleine Hilfen, die es Menschen mit Demenz ermöglichen, lange in ihrem Zuhause zu bleiben. „Wir mussten das nur noch in dieses niedrigschwellige Angebot umsetzen. Und große Investitionen sind für eine demenzgerechte Wohnung auch nicht nötig. Nur unsere Erfahrung, Verständnis für die Betroffenen und Organisationstalent.“

Die Musterwohnung geht auf Tour

  • Mobile Version: Die Musterwohnung der AOK Rheinland/Hamburg gibt es auch in einer mobilen Version, die die Servicestelle in verschiedenen Regionen vorstellt. Erste Station ist vom 24. März bis 3. April die Niederlassung der AOK Rheinland/Hamburg in Hürth. Weitere Termine finden Sie unter: www.aok.de/pk/rh/inhalt/ausstellung-musterwohnung-demenz-2/
  • Die Wanderausstellung besteht aus drei 2,30 mal 2,70 Meter großen Stellwänden mit Fotos der Originalwohnung. Darauf sind die wesentlichen Merkmale festgehalten, die den Schwerpunkt der Schulung „Zu Hause leben – auch mit Demenz“ verdeutlichen.
  • Virtueller Rundgang: Zudem können sich Interessierte in einem virtuellen Rundgang durch die Wohnung in Jülich informieren. Eine Broschüre mit Lösungen rundet das Angebot ab.

Weitere Informationen unter www.aok.de/pk/rh/inhalt/musterwohnung-demenz/

Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Wo lang im Gesundheitswesen? Der SVR Gesundheit und Pflege empfiehlt mehr Richtungspfeile für alle Akteure.

© StefanieBaum / stock.adobe.com

Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege

Gesundheitsweise empfehlen Primärversorgung für alle – und Quotierung der Weiterbildung

„Wenn die Politik Wissenschaftlern sagen würde, wir wollen dieses oder jenes Ergebnis, ist das Propaganda.“ Klaus Überla – hier im Treppenhaus seines Instituts – über Einmischungen aus der Politik.

© Patty Varasano für die Ärzte Zeitung

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer