Notfallrettung Baden-Württemberg

"Die Struktur der Selbstverwaltung ist komplett gescheitert"

Die medizinische Notfallrettung in Baden-Württemberg ist in großer Not, Ärzte arbeiten am absoluten Limit - das sagt Dr. Eduard Kehrberger, Landesvorsitzenden der AG südwestdeutscher Notärzte, im Interwiev mit der "Ärzte Zeitung".

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Übt harsche Kritik: Dr. Eduard Kehrberger, Landesvorsitzender der AG südwestdeutscher Notärzte.

Übt harsche Kritik: Dr. Eduard Kehrberger, Landesvorsitzender der AG südwestdeutscher Notärzte.

© agswn.ev

Das Interview führte Ingeborg Bördlein

Ärzte Zeitung: Eine neue Statistik zeigt, dass die per Landesgesetz festgeschriebene Hilfsfrist, also die Zeitspanne zwischen Eingang des Notrufs und Eintreffen des Notarztes am Einsatzort von maximal 15 Minuten derzeit nur in fünf von 37 Rettungsdienstbereichen Baden-Württembergs auch wirklich eingehalten wird. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Kehrberger: In Wahrheit ist die Situation noch schlimmer. Eigentlich sind zehn Minuten Hilfsfrist vom Gesetzgeber gefordert. Legt man die zugrunde, wird diese in keinem einzigen Bereich eingehalten - ob im ländlichen Raum oder in den Ballungsgebieten. Bei einem Herz-Kreislaufstillstand zum Beispiel ist eigentlich eine Hilfsfrist von acht Minuten erforderlich, ebenso bei akuter Atemnot oder einem Herzinfarkt.

Hierzulande ist sie einfach zu lang für solche Notfälle. In anderen Bundesländern sind die Vorgaben strenger. In Nordrhein-Westfalen etwa sind fünf bis acht Minuten, im ländlichen Bereich zwölf Minuten gefordert, in Hessen sind es zehn Minuten, die in 90 Prozent einzuhalten sind. Allerdings sind Vergleiche schwierig, denn jedes Bundesland hat sein eigenes Rettungsdienstgesetz mit unterschiedlichen Definitionen der Hilfsfristen.

Was sind die genauen Ursachen für die aktuelle Situation in Baden-Württemberg?

Kehrberger: Die sind strukturell bedingt, und das ist schon seit mindestens zehn Jahren bekannt. Wir haben hierzulande suboptimale und träge Strukturen in der Organisation des Rettungsdienstes zum einen und zu wenig Rettungsmittel, also Fahrzeuge und Personal zum anderen. Es ist im Vergleich mit anderen Bundesländern einfach zu wenig Geld im System.

Wie kann das in dem Musterländle Baden-Württemberg sein?

Kehrberger: Die Crux liegt im System. Hierzulande wird der Rettungsdienst, anders als in anderen Bundesländern, nicht von den Kommunen, sondern von der Selbstverwaltung - also den Kassen und den Leistungserbringern - getragen, wodurch de facto die Kostenträger weitgehend über die Vorhaltungen bestimmen können. Hierdurch liegt der Fokus in Baden-Württemberg zu sehr auf der Ausgabenseite. So zahlt die AOK Baden-Württemberg zum Beispiel pro Versichertem für den Rettungsdienst unter 30 Euro, in Hessen sind es 60 Euro. Es kann nicht sein, dass in einem so elementaren Bereich der Daseinsvorsorge wie der Notfallversorgung, die Kassen, deren Aufgabe es ja ist, das Geld der Versicherten zusammen zu halten, praktisch alle Entscheidungen blockieren können. Hierzulande werden Entscheidungen über die finanzielle Ausstattung und organisatorische Fragen zum Rettungsdienst in Gremien der Selbstverwaltung, den Bereichsausschüssen wie in einer Art Geheimzirkel beraten, ohne öffentliche Kontrolle.

Was müsste in Zukunft geändert werden?

Kehrberger: Man muss die Struktur der Selbstverwaltung als komplett gescheitert ansehen, um die Probleme im Rettungsdienst zu lösen. Sinnvoll wäre es, die Trägerschaft des Rettungsdienstes etwa den Kommunen zu übertragen. Zumindest müssten die Gremien der Selbstverwaltung öffentlich tagen. Außerdem muss die öffentliche Hand hier Steuerungsmöglichkeiten haben. Wenn eine Drehleiter bei der Feuerwehr angeschafft wird , findet die Beratung ja auch öffentlich statt.

Was kann notfallmäßig - also rasch - getan werden?

Kehrberger: Es steht die Novellierung des Rettungsdienstgesetzes an, darin könnten die Organisationsstrukturen verbessert werden. Es ist ja nicht alles schlecht hierzulande. Wir haben eine Zentralstelle für Qualitätssicherung, die SQR-BW, die jährlich alle Daten im Rettungsdienst zusammenführt, auswertet und Qualitätsdefizite sowie Optimierungspotenziale aufzeigt. Da sind wir im Ländervergleich sogar Vorreiter.

Doch um die so erkannten Probleme schnell zu beseitigen, braucht es in den Rettungsdienstbereichen eine unabhängige Institution oder Person. Zum Beispiel einen organisationsneutralen Ärztlichen Leiter Rettungsdienst, der für das Qualitätsmanagement verantwortlich ist. Das wäre rasch umsetzbar und eine extrem wichtige Maßnahme. Alle anderen Bundesländer haben dies schon erkannt!

Lesen Sie dazu auch: 50 Jahre Rettungswagen: Das "Rendezvous-System" erobert die Welt

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