Inflation der Paragrafen

Wie Gesetze zur Defensivmedizin führen

Das Patientenrechtegesetz hat den "dokumentierenden Arzt" geschaffen - und treibt Medizinrechtler und Ethiker um. Sie sehen eine Gesetzesinflation, die Ärzten zunehmend das Leben schwer macht - und für Misstrauen zwischen Arzt und Patient sorgt.

Von Robert Büssow Veröffentlicht:
Recht oder Rechnen? Wie sehr gängeln Paragrafen die Ärzte?

Recht oder Rechnen? Wie sehr gängeln Paragrafen die Ärzte?

© [M] Arzt: Peter Atkins / fotolia.com | Waage: lassedesignen / fotolia.com

WEIMAR. Jahrhundertelang mussten sich Ärzte nur wenigen Normen und Instanzen unterwerfen: dem Hippokratischen Eid, der Standesethik und ihrem eigenen Gewissen. Der moderne Rechtsstaat hat inzwischen auch die Medizin durchdrungen. Oder müsste es eher heißen: Er hat sie sich einverleibt?

"Das Leiden der Ärzte am Recht" lautete ein Schwerpunkt des diesjährigen Richter- und Staatsanwältetags in Weimar. Christian Katzenmeier, Professor für Medizinrecht an der Universität Köln, stellte die Gegenthese auf: "Verrechtlichung ist per se keine negative Erscheinung. Sie ist Ausdruck der Herrschaft des Rechts über die Willkür."

Wie jeder andere Bereich habe sich auch die Medizin einer Außenkontrolle zu unterwerfen. Dies werde im Grunde auch nicht bestritten. Letztlich diene die Reglementierung dazu, ärztliches Handeln zu legitimieren und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten zu stärken.

In jüngster Zeit habe die Betonung der Patientenrechte jedoch eine Gesetzesinflation ausgelöst. Der Reflex: eine Defensivmedizin. Durch die "Überdosierung des Rechts" bestehe die Gefahr, dass Ärzte zur Risikominimierung und Vermeidung von Haftungsklagen entweder sinnvolle Behandlungen unterlassen - oder sich mit Überdiagnostik (Röntgen, CT) absichern.

Beides sei nicht im Sinne des Patienten. Besonders kritisch ging Katzenmeier mit dem 2013 beschlossenen Patientenrechtegesetz ins Gericht. Es sei politisch motiviert und publikumswirksam. "An der sachlichen Begründung gab und gibt es Zweifel", betonte Katzenmeier.

Vor allem die neu eingeführte Pflicht zur Fehleroffenbarung leiste einer "Misstrauenskultur" Vorschub. "Das Patientenrechtegesetz treibt die unheilvolle Entwicklung vom behandelnden zum dokumentierenden Arzt voran", mahnte der Medizinrechtler. Die zahlreichen Beweiserleichterungen hätten an einigen Gerichten bereits eine Prozessflut losgetreten.

Immer neue Rahmenbedingungen

Woran viele Ärzte wirklich leiden, sei nur vordergründig die Verrechtlichung, tatsächlich aber das leidige "Rechnen", meinte Medizinökonom Jürgen Wasem. Die Flut an Regeln und Gesetzen diene ja großteils der Ökonomisierung der Medizin.

Und das aus gutem Grund, stellte Wasem fest: "Ärzte ticken nach Ökonomie und sie besitzen die Fähigkeit zur angebotsinduzierten Nachfragesteigerung". Sprich, je mehr Ärzte, desto mehr Leistungen werden verschrieben. Dies treffe auf ein nur gering ausgeprägtes Kostenbewusstsein auf Seiten der der Patienten, die zudem eine Vollkaskomentalität entwickelt hätten.

Deshalb verteidigte Wasem die Dokumentationspflichten und forderte eine noch stärkere Nutzung evidenzbasierter Instrumente. Verständnis äußerte er an einem Punkt: "Die häufigen Wechsel der politischen Rahmenbedingungen verunsichern viele Ärzte", sagte Wasem.

Der Gesetzgeber versuche in immer kürzeren Abständen auf das Spannungsfeld zwischen Anreizen, die einerseits Unterversorgung und andererseits Überversorgung bewirkten, einzuwirken.

"Ich sehe keine Polarität zwischen Recht und Rechnen: Zur Verantwortung des Arztes gehört beides", sagte Christiane Woopen, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats.

Sie unterschied drei Arten des Leidens am Recht: Wenn das Recht etwas vorschreibe, das der Arzt für medizinisch unsinnig halte, wenn er etwas Sinnvolles nicht tun könne und wenn er etwas Sinnvolles unter ungünstigen Rahmenbedingungen leisten müsse.

Zum ersten Punkt zählte Woopen etwa die überbordenden Aufklärungspflichten, dem Patienten sogar zum Nachteil gereichen könnten. Dagegen habe der Arzt (zweites Leiden) kaum noch Anreize für eine ausreichende Beratung.

"Praxisführerschein" für Patienten

"Wo das Recht zu viel an Aufklärung verlangt, verlangt es zu wenig an Beratung", so Woopen. Es habe sich ein Klima des Misstrauens in das Arzt-Patientenverhältnis eingeschlichen. "Der Arzt erlebt das Recht zunehmend nicht als Schutz, sondern als Gängelung seiner Freiheit. Der Patient ist nicht mehr der Kranke, sondern der potenzielle Kläger."

Sie sehe einen Trend zu "juristischen, statt medizinischen Indikationen". Mögliche Gegenmittel? Unklare Gesetze klarstellen, ein paar Bereiche aus der Rechtsprechung herausholen und auch "mehr Mut der Ärzte", forderte die Medizinethikerin.

"Man muss inzwischen über Risiken aufklären, die mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als einem Promille eintreten", sagte Wolfgang Frahm, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Schleswig. Die Aufklärungspflichten sollten daher beschränkt werden.

Er könne sich vorstellen, die Aufklärung in einfachen Fällen zu delegieren. Auch eine Rückkehr zur Absicherung durch Formulare könne hilfreich sein.

"Und vielleicht sollte man darüber nachdenken, eine Art einmalige Grundaufklärung durchzuführen, vergleichbar mit dem Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein" sagte Frahm. Der Vorschlag löste Heiterkeit aus.

Schlagworte:
Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Ulrike Elsner

© Rolf Schulten

Interview

vdek-Chefin Elsner: „Es werden munter weiter Lasten auf die GKV verlagert!“