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Interview

Chefärztin: „Wissenschaftliche Evidenz braucht Zeit“

Dr. Sigrid R.-M. Krause, Chefärztin und Ärztliche Direktorin der MEDICLIN Deister Weser Kliniken in Bad Münder, über ein interdisziplinäres Rehaprogramm für Post-COVID-Patienten.

Von Frank Brunner Veröffentlicht:
Dr. Sigrid R.-M. Krause.

Alleinerziehende waren durch Corona besonders stark belastet: Dr. Sigrid R.-M. Krause.

© MEDICLIN Deister Weser Kliniken

Frau Dr. Krause, die Coronajahre mit Homeoffice, Schulschließungen und Lockdowns liegen eine Weile zurück. Heute können Sie einerseits mit Abstand zurückblicken, andererseits behandeln sie weiterhin Patienten, die unter ganz unterschiedlichen Folgen leiden. Wie haben die Menschen diese Zeit verkraftet?

Mein Eindruck ist, dass etwa zwei Drittel sehr resilient sind. Sicher: Viele Menschen mussten auf ihre Reserven zurückgreifen. Aber meist haben sie Unsicherheiten und Beeinträchtigungen gut überstanden. Es gibt jedoch Menschen, die bereits unter psychischen Erkrankungen, etwa Depressionen oder Angststörungen, litten und die im Rahmen der Pandemie zusätzlich unter Druck gerieten – auch deshalb, weil erlernte Schutzmechanismen unter den besonderen Bedingungen nicht mehr funktionierten. Mit diesen Patienten arbeite ich bis heute.

Gibt es eine Gruppe, die besonders oft Hilfe sucht?

Grundsätzlich sind alle Schichten betroffen. Aber aus meiner Erfahrung sind Alleinerziehende stark belastet. Sie mussten Kinder plötzlich ganztägig zu Hause betreuen, Kontakte zu Kollegen existierten oft nur online und sporadisch und private Beziehungen konnten nur eingeschränkt gepflegt werden. Viele fühlten sich allein gelassen, reagierten mit sozialem Rückzug.

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Wie können Sie in solchen Fällen helfen?

Wenn Mütter in die stationäre Reha kommen, in der Regel für fünf Wochen, ist zunächst wichtig, dass ihre Kinder gut versorgt sind. Bei uns besteht die Möglichkeit, dass Mädchen und Jungen bis 12 Jahren mit aufgenommen werden. Sie werden von Erziehern betreut, besuchen eine Schule in Kliniknähe. So können sich die Eltern voll auf ihre Behandlung konzentrieren.

Unter Post-COVID werden viele Symptome zusammengefasst, die auch typisch für andere Erkrankungen sind. Woher wissen Sie, dass es sich wirklich um dieses Syndrom handelt?

Die Patienten kommen bereits mit dieser Diagnose zu uns, nachdem Ärzte – oft in spezialisierten Long-COVID-Ambulanzen – andere Ursachen ausgeschlossen haben. Trotzdem erstellen wir unsere eigene Anamnese. Anschließend füllen die Patienten eine Checkliste aus, in der sie noch mal Fragen zu Symptomen und Lebensqualität beantworten. Es folgt eine psychologische Diagnostik zu den Themen Erschöpfung, Angst und Depression. Wir prüfen aber auch körperliche Belastbarkeit.

Bei vielen Patienten wird trotz milder Coronaverläufe später ein schweres Post-COVID-Syndrom diagnostiziert. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Tatsächlich würde man Post-COVID eher nach schweren Verläufen erwarten. Dass auch milde Krankheitsverläufe zu einer Chronifizierung von Beschwerden führen, ist ein neues Phänomen, das die Wissenschaft bislang noch nicht abschließend einordnen kann.

Wie lautet Ihre Hypothese?

Es könnte mit der Virusgenese zusammenhängen. Im Körper greift es unterschiedliche Organe an, ruft dort kaskadenartige Reaktionen hervor, beispielsweise Blutgerinnungsstörungen, Gefäßveränderungen oder Autoimmunreaktionen, die schließlich in eine anhaltende Dysregulation des Immunsystems münden könnten.

Die MediClin-Kliniken haben ein interdisziplinäres Reha-Konzept für Post-COVID etabliert. Was ist das Besondere daran?

Wir stützen uns auf fünf Säulen: Diagnostik, interdisziplinäre Konsile, Therapiemodule, zentrales Post-Covid-Experten-Board und wissenschaftliche Auswertung. Nehmen wir die Konsile: Normalerweise werden Reha-Patienten einem Fachbereich zugewiesen – zum Beispiel Neurologie, Psychosomatik, Innere Medizin oder HNO. Da bei Post-COVID unterschiedliche Körperfunktionen betroffen sind, müssten Patienten ständig die Klinik wechseln.

Bei MediClin erhält ein interdisziplinäres Ärzteteam alle Informationen über den Krankheitsverlauf, anschließend treffen sich Fachärzte und Patient, die Spezialisten fragen, der Patient antwortet. Anschließend besprechen wir uns noch einmal ohne Betroffenen.

Können Sie ein Beispiel für diese Zusammenarbeit schildern?

Das kann ich. Viele Patienten haben Atemnot, aber die Lungenfunktion ist unauffällig. Mich hat das anfangs gewundert, weil das Virus primär über die Lunge den Körper infiziert. Ich vermutete eine psychische Ursache. Ein Pneumologe stellte dann aber fest, dass die Atemnot aus einer Atemmuskelschwäche resultierte. Ein anderes Beispiel: Neulich erzählte ein Patient von schweren Schlafstörungen mit Albträumen. Der Neurologe sagte, dass mit dem Nervensystem alles in Ordnung sei. Einer Kollegin und mir war schnell klar, dass der Mann unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet und die Insomnie eine Folge davon ist.

Wie viele Long-COVID-Patienten haben Sie und Ihre Kollegen bislang behandelt?

Im Rahmen unseres Post-Covid-Programms in bundesweit allen MediClin-Häusern knapp 4.000. Das sind aber nur die Reha-Patienten. Würde man die Zahl der in Akutkliniken Behandelten addieren, wären es deutlich mehr.

Eine weitere Säule ist das Zentrale Post-COVID-Expertenboard. Was muss man sich darunter vorstellen?

Das sind Gesprächsrunden von Kollegen aus den Post-COVID-Schwerpunktkliniken, in denen sie grundsätzliche Fragen diskutieren – ohne, dass es einen direkten Patientenbezug geben muss. Es geht dabei unter anderem um die Mitgestaltung der Leitlinien oder um Qualitätssicherung in der Therapie.

Zum Programm gehört auch eine wissenschaftliche Auswertung. Gibt es erste Forschungsergebnisse?

MediClin hat unlängst ein Institut für Rehabilitationsforschung gegründet, in dem Resultate zentral analysiert werden. Wir konnten nach den drei- bis fünfwöchigen Therapien eine Verbesserung von durchschnittlich rund 50 Prozent bei Symptomen, wie Konzentrations- und Schlafstörungen und Luftnot feststellen; physische und psychische Leistungsminderungen gingen ebenfalls signifikant zurück. Einzig bei Muskelschmerzen war die Erfolgsrate mit rund zehn Prozent deutlich geringer. Grundsätzlich stehen wir noch am Anfang. Wissenschaftliche Evidenz braucht nicht nur belastbare Daten, sondern auch Zeit.

Vielen Dank für das Gespräch!

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