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Nutzenbewertung

„Bei beschleunigten Zulassungen bleiben viele Fragen offen“

Der Begriff Orphan Drug sollte neu definiert werden, fordert Professorin Petra Thürmann. Aber auch das beschleunigte Zulassungsverfahren brauche eine Überarbeitung, meint die Mitherausgeberin des Arzneimittel-Kompasses 2021 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).

Von Taina Ebert-Rall Veröffentlicht:
Hilfreich für Ärzte wäre auch eine bessere Einbindung von Leitlinien in dieVerordnungssoftware, meint Prof. Petra Thürmann.

Hilfreich für Ärzte wäre auch eine bessere Einbindung von Leitlinien in die Verordnungssoftware, meint Prof. Petra Thürmann.

© Michael Mutzberg

Frau Prof. Thürmann, Sie plädieren dafür, beschleunigte Zulassungen von Arzneimitteln künftig anders zu bewerten. Was läuft derzeit falsch?

Prof. Petra Thürmann: In diesen Fällen der beschleunigten Zulassung wissen wir oft nur wenig über die Sicherheit und Wirksamkeit der Wirkstoffe. Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass immer mehr hochpreisige neue Arzneimittel in Indikationen mit einem hohen Behandlungsdruck in beschleunigten Verfahren zugelassen werden. Basis dafür bilden aber nur kleine oder unvollständige Studien, die noch sehr viele Fragen offenlassen. Zwar erhalten die Hersteller die Auflage, Studien nachzureichen. Wenn sie das aber nicht tun, gibt es keine Sanktionen.

Gibt es nicht auch Gründe, die für die schnelle Zulassung von Medikamenten sprechen, etwa wenn es um Innovationen geht, die Leiden oder Sterben hinauszögern?

Wir müssen unterscheiden zwischen seltenen Erkrankungen, von denen in Europa weniger als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind, und bestimmten Krebserkrankungen. Ich spreche hier nicht über die Einzelfälle, die echten seltenen Erkrankungen. Hier erlaubt die europäische Zulassungsbehörde den Marktzugang auch bei geringer Studienlage. Worüber wir sprechen, sind Medikamente für die Behandlung beispielsweise bestimmter Unterarten von Krebs.

Im Jahr 2020 waren zwölf der 32 in der EU neu zugelassenen Wirkstoffe Onkologika. Sie alle basieren auf ganz neuen Wirkmechanismen. Sieben der zwölf waren wiederum Orphan Drugs. Für diese Orphan Drugs werden wegen der geringen Zahl an Betroffenen in der Regel besonders hohe Preise aufgerufen. Außerdem sind diese von der Nutzenbewertung im AMNOG-Verfahren zunächst befreit, es sei denn, die Jahreskosten in Deutschland übersteigen 50 Millionen Euro.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Nach Analysen der Europäischen Arzneimittelagentur erfüllen nur die Hälfte der Medikamente mit einer bedingten Zulassung die Kriterien, um eine reguläre Zulassung nach einem Jahr zu bekommen. Trotzdem bleiben die anderen Arzneimittel als bedingte Zulassungen weiter im Markt.

Zum Beispiel konnte bei den 240 Onkologika, die bis Juni 2021 nach einer AMNOG-Bewertung auf den Markt gekommen sind, in der Mehrzahl der Bewertungen der Zusatznutzen nicht belegt werden, war gering oder konnte nicht quantifiziert werden. So etwas ist das eigentlich Problematische. Es ist ethisch einfach nicht vertretbar, dass Arzneimittel zugelassen werden, der einzelne Patient keinen Nutzen davon hat, aber die Gemeinschaft dafür bezahlt hat. Im vorigen Jahr entfielen zum Beispiel nur 1,2 Prozent aller Verordnungen in der GKV auf Krebstherapien.

Gleichzeitig machten sie mehr als 20 Prozent der Arzneimittelkosten aus. Ein Großteil der Kosten hiervon entfiel wiederum auf Orphan Drugs für sehr spezielle Krebstherapien. Man sollte den Begriff der Orphan Drugs noch mal neu definieren. Schließlich ist die Verordnung dieser Medikamente auch für Wissenschaftlerinnen und Ärzte eine große Herausforderung.

Welche Lösungsansätze gibt es aus Ihrer Sicht?

Um die Evidenz für neue Onkologika zu analysieren, gibt es Handreichungen mit Algorithmen von internationalen Fachgesellschaften, etwa der European Society for Medical Oncology (ESMO) und der American Society of Clinical Oncology (ASCO). Eine Datenanalyse für 47 sowohl in den USA als auch in Europa zugelassenen Onkologika anhand dieser Werkzeuge ergab, dass kein Zusammenhang zwischen den Behandlungskosten und dem klinischen Nutzen belegt werden konnte.

Daraus lassen sich verschiedene Maßnahmen ableiten, die eine fachlich sinnvollere und gerechtere Bewertung von Onkologika und insbesondere Orphan Drugs ermöglichen: eine Neuformulierung der Definition und Prävalenz für Orphan Drugs, präzise Kriterien, wann ein ungedeckter medizinischer Bedarf und ein signifikanter Nutzen vorliegen. Ferner muss die Kostendarstellung für Forschung und Entwicklung seitens der Hersteller transparenter gemacht werden, um zu angemessenen Preisen zu kommen.

Gibt es weitere Aspekte?

Aus hohen Preisen für Orphan Drugs und Onkologika ergeben sich auch Fragen, die in Deutschland noch nicht ausreichend beantwortet sind. Der Arzneimittel-Kompass kommt in einem Beitrag über die ethischen Fragen unter anderem zu dem Schluss, dass faire Arzneimittelpreise auch eine Voraussetzung für ein nachhaltiges Gesundheitssystem darstellen.

Ein wesentlicher Schritt für eine rationale Arzneimitteltherapie ist zudem die direkte Einbindung von Nutzenbewertungen, aber auch Leitlinien und anderen evidenzbasierten Informationen in den elektronischen Verordnungsprozess in Form eines transparenten praxistauglichen Arztinformationssystems. So können die Ergebnisse der Nutzenbewertung nicht nur für Preisverhandlungen genutzt werden, sondern auch Grundlage für eine rationale Arzneimitteltherapie sein. Auch eine begleitende Therapieberatung, etwa im Rahmen von Qualitätszirkeln, kann hilfreich sein. Auf diese Weise kann vor allen Dingen bei der Therapie häufiger, chronischer Erkrankungen eine rationale Arzneimitteltherapie sicher umgesetzt werden.

Prof. Petra Thürmann

  • Seit 1. November Vizepräsidentin der Universität Witten/Herdecke (UW/H) für den Bereich Forschung.
  • Mitherausgeberin des Arzneimittel-Kompasses 2021
  • Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)

Mehr Infos zum Arzneimittel-Kompass 2021 und zur Pharmakologischen Beratung der AOK für Ärzte unter:

www.wido.de/publikationen-produkte/buchreihen/arzneimittel-kompass/2021/

www.wido.de/forschung-projekte/arzneimittel/pharmpro/

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