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Prävention

Gesunde Ernährung muss erlebt werden

Ernährungsbedingte Krankheiten sind heute die größte Herausforderung für die Gesundheit der Menschen und das Gesundheitswesen. Professor Berthold Koletzko vom Dr. von Haunerschen Kinderspital im Klinikum der Universität München (LMU) erlebt regelmäßig, dass Familien kaum noch wissen, welche Lebensmittel gesund sind und wie sie diese zubereiten können.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Gemeinsames Kochen mit frischen Lebensmitteln findet in Familien viel zu selten statt.

Gemeinsames Kochen mit frischen Lebensmitteln findet in Familien viel zu selten statt.

© Konstantin Yuganov / stock.adobe.com

Ernährung spielt bei der Gesundheit eine zentrale Rolle. Lässt sich dieser Einfluss irgendwie beziffern?

Prof. Berthold Koletzko: Der Einfluss der Ernährung auf die Gesundheit ist sehr groß, aber in Zahlen oder gar in einer Skala von Null bis 100 Prozent lässt sich das nicht beziffern und hängt auch vom Einfluss anderer Faktoren ab. Belegt ist, dass die Belastung durch ernährungsabhängige nicht-übertragbare Erkrankungen wie Übergewicht, Diabetes, Herzkreislaufkrankheiten und bestimmte Krebsarten in den letzten 25 Jahren um ein Drittel zugenommen hat. Diesem Trend entgegenzuwirken ist deshalb eine entscheidend wichtige Herausforderung, um Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Lebensqualität der Menschen zu schützen.

Angenommen, ich würde mich in meinem Alltag kaum bewegen, aber mich unglaublich gesund ernähren…

Ja, sowohl Ernährung als auch Bewegung können sich sehr stark auf die Gesundheit auswirken. Wer auf gesunde Ernährung achtet, kann jedoch schneller und effektiver seine überflüssigen Pfunde loswerden. Zum Beispiel trinken in Deutschland 11- bis 13-jährige Jungen durchschnittlich 450 ml zuckerhaltige Getränke täglich, was etwa 1250 Kilokalorien pro Woche entspricht. Würden sie stattdessen Wasser trinken, könnten sie in nur drei Wochen das Körpergewicht um ein Pfund reduzieren. Um mit einer Stunde Jogging pro Woche ein Pfund abzunehmen brauchen sie dagegen 15 Wochen. Die Effektivität von Bewegung ist also fünfmal geringer.

Wer rechnet schon damit, dass eine kleine Tiefkühlpizza oft sieben Stück Würfelzucker und mehr enthält?

Professor Dr. Dr. Berthold Koletzko

Wenn wir uns gesund ernähren wollen, sollten wir dann die praktischen Fertigprodukte besser ganz meiden?

Frisch zubereitetes Gemüse ist ein Grundbaustein gesunden Essens, wie wir es aus der mediterranen Ernährungsweise kennen. Aber Fertigprodukte sind im Trend und werden zunehmend verwendet, weil sie Zeit sparen und bequem sind. Deshalb kann man es nicht hinnehmen, dass so viele angebotene Fertigprodukte viel zu viel ungesunde gesättigte Fette, Zucker und Salz enthalten. Wer rechnet schon damit, dass eine kleine Tiefkühlpizza oft sieben Stück Würfelzucker und mehr enthält?

Verbraucher müssen gesünder auswählen können und dazu die Chance bekommen, die unterschiedliche Qualität von Fertigprodukten beim Einkauf schnell vergleichen zu können. Deshalb setzen sich die Ärzte- und die Verbraucherverbände energisch für eine verpflichtende, einfache Farbkennzeichnung der Nährstoffqualität auf der Packungsvorderseite ein. Mit Farben von Grün bis Rot und Buchstaben lässt der Nutri-Score diese Qualität auf einen Blick erkennen, so wie wir das seit langem beim Kauf von Elektrogeräten vom in Europa vorgeschriebenen Energielabel kennen.

Die verpflichtende Lebensmittelauszeichnung mit dem Nutri-Score würde es auch Herstellern erleichtern, in die Verbesserung ihre Produkte zu investieren, weil Käufer das dann auch sofort erkennen.

Hapert es eher am Wissen bei der Ernährung oder an der Esskultur?

Die aktuelle bundesweite Erhebung der AOK zeigt erschreckende Lücken bei der Ernährungskompetenz. Oft mangelt es auch an der praktischen Umsetzung des vorhandenen Wissens. Es gibt ein Missverhältnis zwischen Wissen und Umsetzung. Viele Menschen erleben ihren Alltag als sehr dicht und getaktet. Es erscheint ihnen oft einfach zu aufwändig, selbst zu kochen und auf ausgewogene Ernährung zu achten. Als Kinder- und Jugendarzt beunruhigt mich besonders die deutlich schlechtere Ernährungskompetenz bei jüngeren Menschen: 63 Prozent der 18- bis 24-Jährigen zeigen in der AOK-Erhebung problematische oder inadäquate Werte, verglichen mit nur 43 Prozent bei über 60-Jährigen.

Offensichtlich erwerben junge Menschen heute in Familie und Bildungseinrichtungen viel weniger Ernährungswissen und Handlungskompetenz als in früheren Generationen.

Was ist zu tun?

In meinem kinderärztlichen Alltag bin ich regelmäßig damit konfrontiert, dass junge Eltern nicht mehr gewohnt sind, Mahlzeiten aus Grundnahrungsmitteln selbstständig zuzubereiten. Wir hatten beispielsweise ein 12-jähriges stark übergewichtiges Mädchen in der Betreuung, deren Eltern berufstätig waren. Die Familie hat sich vornehmlich von Kantinenkost und Fertigprodukten ernährt. Angetrieben durch den Wunsch, ihr Übergewicht anzugehen, hat das Mädchen dann frisches Gemüse für sich entdeckt und auch die Zubereitung erlernt. Dadurch hat sie ihr Körpergewicht deutlich reduziert und auch die ganze Familie auf eine neue Spur gesünderer Ernährung gebracht. Wegen des Vormarsches der Fertigprodukte mit meist ungünstiger Zusammensetzung ist es heute wichtiger als je zuvor, die Menschen zu befähigen, gesunde Speisen und Getränke auszuwählen und zuzubereiten.

Es wird doch schon viel über gesunde Ernährung informiert. Was fehlt?

Die von der Bundesregierung favorisierte Strategie der Stärkung von Menschen und Familien durch vielfältige Informationsangebote und gut gemachte Broschüren ist gut und wirksam, aber sie erreicht vor allem gut ausgebildete und motivierte Menschen, weniger aber sozial und ökonomisch benachteiligte Menschen. Entsprechend hat die Ungleichheit der gesundheitlichen Chancen weiter zugenommen. In der bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitsuntersuchung war vor einem Jahrzehnt das Adipositas-Risiko bei Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien etwa dreifach höher als bei Kindern aus Familien mit einem hohen sozioökonomischen Status. Heute ist der Unterschied auf das 4,1- bis 4,4-fache angestiegen. Es bedarf also dringend der Stärkung verhältnispräventiver Maßnahmen, die eine gesündere Wahl für alle Menschen zur leichteren Wahl machen.

Gemeinsam mit der Stiftung Kindergesundheit setzen Sie Programme der Gesundheitsbildung in Schulen und Kitas um. Wie können diese wirksam werden?

Die Programme TigerKids für KiTas und Rakuns für Grundschulen der Stiftung Kindergesundheit richten sich an Kinder, Pädagogen und Familien. Neben der Vermittlung von Wissen vermitteln sie vor allem Handlungskompetenz und festigen gesunde Verhaltensweisen durch alltägliche Praxis. Gesunde Lebensweise und Ernährung soll im Alltag regelmäßig erlebt und damit selbstverständlich werden. Dazu müssen die Bedingungen der Lebenswelten gesundheitsfördernd gestaltet werden. Zum Beispiel sollte es selbstverständlich sein, dass in KiTa und Schule ausschließlich zuckerfreie Getränke und eine verpflichtenden Qualitätsstandards entsprechende Verpflegung angeboten werden. Andere europäische Nachbarländer haben das längst etabliert, wir sollten nicht länger hintenanstehen.

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