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Wirkstoff-Kandidaten mit Orphan-Drug-Status

Orphan Drugs – Risiken für ein Modell

Die Herausforderung bleibt gigantisch: Rund 8000 seltene Erkrankungen sind inzwischen wissenschaftlich identifiziert, insgesamt vier Millionen Menschen allein in Deutschland sind davon betroffen. Hoffnung kommt aus der Forschung, denn 2400 Wirkstoff-Kandidaten haben einen offiziellen Orphan-Drug-Status der EU. Aktuelle Sparpläne könnten dem Erfolg schaden.

Von Helmut Laschet Veröffentlicht:
Ein Medikament unter vielen, das wenigen hilft? 2400 Wirkstoff-Kandidaten in der EU haben den Orphan-Drug-Status.

Ein Medikament unter vielen, das wenigen hilft? 2400 Wirkstoff-Kandidaten in der EU haben den Orphan-Drug-Status.

© artisteer / Getty Images / iStock

Seltene Krankheiten waren in Europa bis vor gut 20 Jahren medizinisch „terra incognita“. Erst Ende der 1990er Jahre schuf die Europäische Kommission für die Entwicklung von Therapien gegen seltene Krankheiten eigene Rahmenbedingungen: Seit 2000 erhalten Hersteller von Orphan Drugs eine zehnjährige Marktexklusivität, Zulassungsgebühren entfallen teilweise, und es wurden neue beschleunigte Zulassungsverfahren mit erleichterten Nachweisbedingungen für die Wirksamkeit eingeführt. Vorausgesetzt, das Arzneimittel wird speziell für eine seltene Krankheit entwickelt, von der höchstens 5 von 10.000 Menschen betroffen sind.

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Bis jetzt sind in der EU insgesamt 208 Medikamente gegen seltene Krankheiten zugelassen worden. Derzeit haben 138 davon einen Orphan-Drug-Status. 70 Arzneimittel haben diesen Status inzwischen verloren, meist weil die Marktexklusivität nach zehn Jahren abgelaufen ist. Manche ehemaligen Orphan Drugs haben sich zu Blockbustern entwickelt.

EU-Recht triggert die Forschung

Die EU-Regulation hat anhaltend dynamische Forschungsanstrengungen incentiviert, die zu einer tendenziell wachsenden Zahl jährlich neu zugelassener Orphan Drugs führte. Das wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Stand Juli 2022 befanden sich 2400 Wirkstoffe mit anerkanntem Orphan-Drug-Status in der Entwicklung. Ein großer Teil davon könnte in den nächsten Jahren zugelassen werden, sodass die Zahl behandelbarer seltenen Erkrankungen signifikant steigen könnte.

Das wird aber auch von den Rahmenbedingungen abhängen, die speziell für Orphan Drugs gelten. Nicht zuletzt aufgrund absehbarer Defizite der gesetzlichen Kassen wird der Bundestag in Kürze das GKV-Finanz-Stabilisierungsgesetz beraten, das auch Eingriffe in die Erstattungsbedingungen für Orphan Drugs vorsieht und Unsicherheiten für die Refinanzierung von Investitionen schafft.

Hintergrund ist eine von den Kassen angestoßene Diskussion über die aus ihrer Sicht unerwünschten Effekte der besonderen Zulassungs- und Marktbedingungen für Orphan Drugs.

EMA kontrolliert Missbrauch

So wird behauptet, Unternehmen versuchten, von Orphan-Drug-spezifischen Regelungen zu profitieren, indem sie nicht seltene Erkrankungen künstlich in kleine Subpopulationen aufspalten, bis die Zahl der zu behandelnden Patienten der einer seltenen Krankheit entspricht („Slicing“). In Wirklichkeit ziele eine solche Strategie auf die Vermarktung in größeren Patientenpopulationen ab.

Die europäische Orphan Drug-Regulierung verhindert dies jedoch, indem die EMA prüft, ob die vom Hersteller beanspruchte Indikation plausibel ist und sich in einer Orphan-Klassifizierung widerspiegelt. In einem Gutachten zur Orphan-Drug-Regulierung im Auftrag des vfa kommen die Gesundheitsökonomen David Messinger und Hans-Holger Bleß vom Berliner fbeta-Institut zu dem Ergebnis, dass die EMA Herstellern in mehreren Fällen, bei denen ein Slicing-Verdacht bestand, den Orphan-Drug-Status verwehrt hat.

Allerdings konzedieren die Autoren, dass speziell in der Onkologie und der personalisierten Medizin Probleme dadurch entstehen, weil etwa Tumore seit einiger Zeit nicht mehr nur durch ihre Entität (Niere, Brust, Lunge), sondern auch genetisch definiert werden und so Krankheiten mit sehr kleinen Patientenpopulationen entstehen. Eine Zulassung, die an tumorgenetische Merkmale und nicht mehr an Tumorentitäten anknüpft, ist laut fbeta-Studie derzeit in Europa die Ausnahme und wird gesetzgeberisch als eine der Herausforderungen im Arzneimittelbereich gesehen. Ein weiterer Verdacht richtet sich darauf, Hersteller beantragten aus ökonomischen Gründen Zulassungserweiterungen, um ihre Marktexklusivität zu verlängern („Evergreening“).

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„Evergreening“ nicht bewiesen

Nach Recherchen von fbeta wurden für 14 von 83 zwischen 2011 und 2020 vom Bundesausschuss bewerteten Orphan Drugs Zulassungserweiterungen genehmigt, meist in der Onkologie. Bei fast der Hälfte der Arzneimittel mit mehreren Zulassungen war die Erweiterung schon im Antrag auf Erstzulassung enthalten. Für die anderen Orphans mit mehreren Indikationen errechnete fbeta eine durchschnittliche Zeitspanne von 1,2 Jahren zwischen Erst- und Erweiterungszulassung. Eine Tendenz zur Maximierung der Marktexklusivität könne demnach nicht festgestellt werden.

Eine alleinige Erweiterung des Personenkreises, zum Beispiel auf andere Altersgruppen, in der gleichen Indikation führe nicht zu einer Verlängerung der Marktexklusivität; rechtlich möglich sei dies nur bei einer weiteren Indikation, die ebenfalls die Voraussetzung einer seltenen Krankheit erfüllt.

Bei der frühen Nutzenbewertung sind Orphan Drugs insoweit privilegiert, als ihr Zusatznutzen aufgrund der Zulassung anerkannt wird; nur bei Jahresumsätzen von über 50 Millionen Euro (einschließlich stationärer Versorgung) erfolgt die volle Zusatznutzenbewertung. In den letzten Jahren wurde vermehrt Kritik daran laut, dass die von den Herstellern gelieferte Evidenz Lücken aufweist.

2400

Wirkstoffkandidaten haben einen von den Arzneimittelbehörden anerkannten Orphan-Drug-Status; sie werden mittelfristig eine große Zahl seltener Erkrankungen behandelbar machen.

fbeta hat deshalb die Ergebnisse aller Nutzenbewertungsverfahren, differenziert nach Orphan und Non-Orphan sowie nach der Art des Zulassungsverfahrens untersucht. Das Ergebnis:

Non-Orphans hatten zu 38 Prozent einen quantifizierbaren Zusatznutzen, sechs Prozent konnten nicht quantifiziert werden, bei 56 Prozent wurde kein Zusatznutzen anerkannt.

Alle bewerteten Orphans hatten zu 34 Prozent einen quantifizierbaren Zusatznutzen, bei 53 Prozent konnte er nicht quantifiziert werden.

Orphans, die das Standardzulassungsverfahren bei der EMA durchliefen, hatten zu 36 Prozent einen quantifizierbaren Zusatznutzen, der Unterschied zu Non-Orphans ist minimal.

Bei einer kleinen Zahl von Orphans mit Sonderzulassungen ist die Quantifizierung sehr eingeschränkt: 28 Prozent bei bedingter Zulassung und nur 13 Prozent bei Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen.

Sparpläne schaffen Unsicherheit

Dabei ist die Evidenzgenerierung bei Orphan Drugs angesichts sehr kleiner Populationen schwierig: bei der Rekrutierung von Probanden und der Einbindung vieler Studienzentren. Dennoch will der Gesetzgeber mit dem GKV-Finanz-Stabilisierungsgesetz das Orphan-Privileg bei der Nutzenbewertung einschränken und die Umsatzschwelle, ab der eine voll umfängliche Nutzenbewertung durchgeführt werden muss, von 50 auf 20 Millionen Euro senken. Zusammen mit der auf den siebten Monat vorverlegten Geltung des Erstattungsbetrages und einem Solidaritätsabschlag von fünf Prozent für alle patentgeschützten Arzneimittel entsteht eine kumulative Wirkung, die Unsicherheit für Hersteller und Patienten schafft.

So befürchtet die Patientenselbsthilfe-Organisation ACHSE, dass Deutschland seine bisherige Funktion als internationaler Leitmarkt, in dem Orphan Drugs de facto direkt nach der Zulassung für die Versorgung zur Verfügung stehen, verlieren könnte. Wenn dies geschehe, „sehen wir die Gefahr, dass die Orphan Drugs nicht mehr zuerst in Deutschland vertrieben werden und Patienten ihren frühen Zugang möglicherweise verlieren“. Die Forderung von ACHSE: „Die Betroffenen brauchen Gewissheit, die Arzneimittel weiterhin zu erhalten.“

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