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Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Vor Herausforderungen sind Forscher, Ärzte und auch das Versorgungssystem bei der Behandlung des Post-COVID-Syndroms (PCS) gestellt. Die Besonderheiten bei PCS, so Professorin Carmen Scheibenbogen vom Institut für Medizinische Immunologie der Charité in Berlin, sind die Heterogenität des Krankheitsbildes sowie beschränkte Therapiemöglichkeiten. Ärzte und Wissenschaftler haben nun in Berlin bei einem Symposium der Paul-Martini-Stiftung in Verbindung mit der Leopoldina eine Zwischenbilanz gezogen.

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Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, die von einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Prävalenzzahlen sind abhängig von der verwendeten Krankheitsdefinition. Entsprechend den von Prof. Carmen Scheibenbogen favorisierten Kriterien litten Ende März 2023 in UK 1,9 Millionen Menschen und somit 2,9 Prozent der Bevölkerung an einem Post-COVID-Syndrom; für Deutschland entspräche das rund 2,4 Millionen Betroffenen.

Bei 69 Prozent der Patienten lag die Akutinfektion mehr als ein Jahr zurück, bei 41 Prozent sogar mehr als zwei Jahre. 79 Prozent der Erkrankten waren in ihren Alltagsaktivitäten beeinträchtigt, 20 Prozent sogar stark beeinträchtigt. Häufigste Symptome: Fatigue (71 Prozent), Konzentrationsstörungen (51 Prozent), Muskelschmerzen und Kurzatmigkeit (je knapp die Hälfte).

„Keine angemessene Versorgung“

Eine der schwerwiegendsten Formen des Syndroms ist Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Vor der Pandemie waren nach Angaben Scheibenbogens etwa 150.000 bis 300.000 Menschen davon betroffen, durch COVID-19 ist die Prävalenz stark gestiegen; derzeit werden etwa zwei Drittel aller ME/CFS-Fälle auf eine COVID-Infektion zurückgeführt. Die Hälfte der Patienten ist arbeitsunfähig, 25 Prozent können ihr Haus nicht mehr verlassen, ein Teil ist bettlägerig. „Die meisten Patienten erhalten keine angemessene Versorgung“, so Scheibenbogen. Es gebe auch keine kausale Therapie.

Diagnostik noch unbefriedigend

Ein weiteres Phänomen bei PCS ist das posturale Tachykardie-Syndrom (POTS). Es ist feststellbar durch einen ZehnMinuten-Stehtest der Betroffenen, bei denen der Herzschlag von der Normalfrequenz auf 120 oder mehr Schläge sprunghaft ansteigt, sobald der Patient seine Ruheposition verlässt.

Verlässliche Biomarker werden immer noch gesucht, so die Neurologin Dr. Christiana Franke, die die Neurologische Post-COVID-19-Sprechstunde der Charité leitet. Immerhin gebe es jetzt Studienergebnisse aus UK, die auf Basis von MRT-Untersuchungen belegen, dass kognitive Störungen nach einer COVID-19-Infektion mit einer Atrophie in Gedächtnis-relevanten Hirnarealen korreliert sind.

Ansonsten, so Scheibenbogen, ist das diagnostische Instrumentarium aber unbefriedigend und orientiert sich weitgehend an Symptomen. Vorhandene Fragebögen, etwa zur Einordnung und Bestätigung einer Depression, hätten sich als ungeeignet erwiesen.

Nur wenige Spezialambulanzen

Ähnlich sieht es bei der Therapie aus: Sie erfolgt meist symptomorientiert, teils im Rahmen von Therapiestudien, teils aber auch off label – und das heißt auf keiner gesicherten Evidenzbasis – und häufig auf Privatrechnung.

Überdies gebe es zu wenige Spezialambulanzen mit oftmals langen Wartezeiten von mehreren Monaten. Ein Teil der Ambulanzen sei allerdings auch einseitig ausgerichtet und erfasse nur einen Teil der Symptome, was zur Fehlinterpretation führen könne, dass das Post-COVID-Syndrom eine rein psychische Erkrankung sei. Rehabilitationsmaßnahmen seien nur sinnvoll, wenn sie die mangelnde Belastungsfähigkeit der Betroffenen berücksichtigen. Das sei jedoch vielen Reha-Einrichtungen unbekannt, sodass die Patienten kränker entlassen würden, als sie aufgenommen wurden.

Patienten machen mobil

In Demonstrationen vor dem Berliner Reichstagsgebäude haben Patienten mit Nachdruck auf ihr Leiden, die hohe Krankheitslast und die bei weitem nicht ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht.

Inzwischen haben maßgebliche Entscheidungsträger reagiert: Das Bundesgesundheitsministerium hat einen „Runden Tisch“ von Experten eingerichtet, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte arbeitet an einer Liste für Arzneimittel zum Off-label-Use bei Post-COVID-Syndrom, der Gemeinsame Bundesausschuss berät über spezielle Versorgungsangebote für Betroffene und plant Projekte im Innovationsfonds.

Mit Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung ist 2022 die Nationale klinische Studiengruppe (NKSG) für ME/CFS/PCS entstanden, die drei Plattformen aufgebaut hat: für klinische Studien, für die Identifikation von Biomarkern sowie für Diagnostik, vor allem Bildgebung. Auf dieser Basis sind inzwischen mehrere Studien angelaufen, in denen Therapieoptionen geprüft werden, so die Immunadsorption, die Einnahme von Vericiguat und die hyperbare Sauerstofftherapie (HBOT).

Zudem werde im Post-Corona-Virus-Immun-Treatment-Trial ProCoVIT die Wirksamkeit von Methylprednisolon zur Behandlung kognitiver Defizite untersucht. Die NKSG kooperiert dabei mit dem Nationalen Pandemie Kohorten Netz (NAPKON). Es gibt erste Hinweise auf eine mögliche Wirksamkeit der Immunadsorption und der HBOT jeweils bei bestimmten Patienten; weitere Ergebnisse zu diesen und den anderen Therapieformen werden 2024 erwartet.

Erneute Impfung bleibt wichtig

Grundsätzlich aber bleibt – auch nach Überwindung der pandemischen Situation – die Auffrischung der Immunität mit adaptierten Vakzinen insbesondere für vulnerable Gruppen – einschließlich der Patienten mit Post-COVID-Syndrom – essenziell, betonen sowohl Scheibenbogen als auch ihr Charité-Kollege Leif Erik Sander, neben Professor Stefan Endres von der LMU München wissenschaftlicher Co-Leiter des Symposiums.

Denn Real-World-Daten aus Israel belegen, dass die immunisierende Wirkung einer Impfung im Zeitablauf nachlässt, dass aber durch eine Boosterung das Risiko für schwere Verläufe deutlich gemindert werden kann. Und jede vermiedene Infektion mindert auch das Risiko für das Post-COVID-Syndrom. (HL)

Videoaufzeichnungen des zweitägigen Symposions sind unter www.paul-martini-stiftung.de/covid-19 abrufbar.

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