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Verdacht auf Behandlungsfehler

Spannungsfeld Patientenrechte?

Im Streit um mögliche Behandlungsfehler hat sich trotz Patientenrechtegesetz wenig getan. Zermürbende Gerichtsverfahren, so sieht noch immer die Realität für Patienten und Ärzte aus. Zwei Juristen erklären, wie eine offene Fehlerkultur beiden Seiten helfen würde.

Von Taina Ebert-Rall Veröffentlicht:
Beim Verdacht auf einen Behandlungsfehler liegt die Beweislast bei den Patienten. Aus Sicht von Nora Junghans, im AOK-Bundesverband für Behandlungsfehlermanagement zuständig, sollten Behandelnde gesetzlich dazu verpflichtet werden, Patienten über Umstände, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, zu informieren – und zwar ohne Nachfrage.

Beim Verdacht auf einen Behandlungsfehler liegt die Beweislast bei den Patienten. Aus Sicht von Nora Junghans, im AOK-Bundesverband für Behandlungsfehlermanagement zuständig, sollten Behandelnde gesetzlich dazu verpflichtet werden, Patienten über Umstände, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, zu informieren – und zwar ohne Nachfrage.

© Zerbor / stock.adobe.com

In Deutschland haben Patienten nach einem Behandlungs- oder Pflegefehler noch immer große Schwierigkeiten, diesen nachzuweisen und Schadensersatzansprüche durchzusetzen. Wichtig hierfür wäre eine Absenkung des Beweismaßes im Rahmen des Kausalitätsnachweises. Zudem sollten Behandelnde gesetzlich dazu verpflichtet werden, Patienten über Umstände, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, generell ohne Nachfrage zu informieren, sagt Nora Junghans, die im AOK-Bundesverband für Behandlungsfehlermanagement zuständig ist. Schließlich sind die meisten Patienten medizinische Laien und auf einen Hinweis ihres Arztes angewiesen, um einem entsprechenden Verdacht nachgehen zu können. Ärzte gefährdeten dadurch ihren Versicherungsschutz nicht, sodass diese Hürde bei der Informationspflicht wegfällt.

Allerdings besteht nach Worten des Hamburger Medizinrechtlers Dr. Johannes Brocks noch immer der „weit verbreitete Irrglaube, dass ein Fehler nicht zugegeben werden darf“. Bereits seit über 15 Jahren aber seien Ärzte durch Paragraf 105 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) geschützt und dürften sich bei Patienten beim Verdacht auf einen Behandlungsfehler nicht nur entschuldigen, sondern diesen auch zugeben. Zudem seien sie „sogar verpflichtet, auf Fehler hinzuweisen, wenn ein Schaden einzutreten droht“. „Damit will der Gesetzgeber den Weg zu einer vernünftigen Fehlerkultur ebnen.“

Unter Ärztinnen und Ärzten besteht noch immer der weit verbreitete Irrglaube, dass ein Fehler nicht zugegeben werden darf.

Dr. Johannes Brocks, Medizinjurist aus Hamburg

Einen der größten Knackpunkte für Patienten sieht Brocks im geforderten Nachweis der Kausalität zwischen einem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Schaden. Denn nach geltender Rechtslage müsse ein Patient nicht nur den Beweis dafür führen, dass ein Verstoß gegen den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standard und ein Schaden vorliegen, sondern auch, dass der Behandlungsfehler diesen Schaden verursacht hat.

„Das ist schwierig, die Kausalität ist ein großes Problem“, sagt Brocks. Ein Grund liegt auf der Hand: Da es derzeit keine Pflicht für Behandelnde gebe, Patienten ohne deren Nachfrage über einen (möglichen) Behandlungsfehler zu informieren, sei bereits der Fehlernachweis für den Betroffenen eine große Hürde. Um die bestehende prozessuale „Waffenungleichheit“ zulasten der Patienten aufzuheben, sollte nach Ansicht des Experten der Beweis für die Kausalität zwischen Fehler und Schaden künftig als geführt gelten, wenn diese überwiegend wahrscheinlich ist. In vielen Ländern, darunter Großbritannien und Österreich ist das längst umgesetzt, wie der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze, jüngst erläuterte.

Gutachter tun sich oft schwer

Über die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe dem Betroffenen ein Schaden entstanden ist, entscheidet nach dem für die vertragliche Haftung geltenden Beweismaß ein Gericht. Die Beweislastregelungen im Arzthaftungsrecht sehen vor, dass Patienten den Vollbeweis hinsichtlich der Kausalität zwischen dem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Schaden erbringen. Das Gericht muss hierzu aus voller Überzeugung entscheiden, ob es eine Behauptung für mit nahezu an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit richtig hält. In vielen Fällen kann dieser Beweis nicht gelingen. „Häufig geht es dann um die Frage, ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt, weil in diesem Fall ausnahmsweise die Kausalität zugunsten der Patienten vermutet wird. Viele Gutachter tun sich damit aber schwer, diese Schwelle nehmen viele nicht“, erläutert Brocks.

Dass die Gerichte die Angaben von Sachverständigen oft ungeprüft übernehmen, ist laut dem Hamburger Medizinrechtler Dr. Johannes Brocks ein großes Problem.

Dass die Gerichte die Angaben von Sachverständigen oft ungeprüft übernehmen, ist laut dem Hamburger Medizinrechtler Dr. Johannes Brocks ein großes Problem.

© Dr. Johannes Brocks

Nicht zuletzt deshalb plädiert AOK-Juristin Junghans dafür, Standards und Qualitätskriterien für medizinische Sachverständigengutachten gesetzlich festzulegen und die Nichteinhaltung zu sanktionieren. Schließlich ist die sachverständige Begutachtung der Behandlungsabläufe eine der wichtigsten Grundlagen für eine richterliche Entscheidung. „Damit Patienten auch außerhalb eines Rechtsstreits die Chance haben, Schadenersatzansprüche durchzusetzen, müssen diese Kriterien für alle Gutachten, unabhängig vom Ersteller, gelten. Für die Patienten geht es um sehr viel, oft sogar um ihre Existenz. Daneben bedarf es durchgreifender Maßnahmen zur Beschleunigung der Rechtsstreite, um für die Geschädigten zeitnah Rechtssicherheit zu schaffen und das jahrelange Warten zu beenden. Hierzu wären auch die Stärkung des Parteisachverständigen und die Einrichtung von Spezialkammern auch für Rechtsstreite im Medizinprodukterecht wichtige erste Schritte.“

Von einer Instanz in die nächste

Auch Brocks wünscht sich in diesem Punkt mehr Klarheit für seine Mandanten. „Dass die Gerichte die Angaben von Sachverständigen oft ungeprüft übernehmen, ist ein großes Problem. Ich habe es schon häufig erlebt, dass eigene Recherchen oder Privatgutachten in den Urteilen kaum berücksichtigt werden. Eine kritische Auseinandersetzung fehlt teilweise schon.“ Deshalb gehe einer Klage um Behandlungsfehler oft in die zweite Instanz. Etwa in der Hälfte der Fälle blieben Zweifel an der Richtigkeit eines Gutachtens. „Dann wird eine neue Beweisaufnahme notwendig, etwa durch ein Ergänzungsgutachten oder ein komplett neues Gutachten. Das kostet Zeit und Geld. Für die Betroffenen kann das sehr zermürbend sein.“

Eines der grundlegenden Patientenrechte ist nach Junghans´ Worten die Einsichtnahme in die Original-Patientenakte. „Bereits im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Patientenrechtegesetz haben verschiedene Seiten darauf hingewiesen, dass das Einsichtsrecht nur unzureichend oder gar nicht gewährt werde, Patienten keine Einsicht oder nur unvollständige Unterlagen erhielten – oft nach monatelangem Kampf, nicht selten vor Gericht.“ Die mit dem Patientenrechtegesetz entsprechend geschaffene Norm diene zwar der Umsetzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und greife die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2006 auf. Doch das bloße „Gießen“ des Patientenrechts in eine gesetzliche Norm bedeute für die Betroffenen „keine Verbesserung ihrer Rechtsposition, wenn Regelungen für Gesetzesverstöße fehlen“.

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Akteneinsicht läuft noch nicht rund

„Deshalb muss der Gesetzgeber nun für eine Normierung sorgen, die den Gesetzesverstößen mit entsprechenden Sanktionen begegnet“, so Junghans weiter. Die AOK-Gemeinschaft habe hierzu einen Vorschlag erarbeitet, der auf den Zeitpunkt des Beginns der Verjährungsfrist für Schadenersatzansprüche abstelle. Demnach darf der Lauf der Verjährungsfrist frühestens ab dem Zeitpunkt beginnen, zu dem die vollständige Patientenakte eingesehen werden konnte. „Erst zu diesem Zeitpunkt sind Betroffene in der Lage, die Behandlungsabläufe in vollem Umfang nachzuvollziehen und diese bei Bedarf prüfen und bewerten zu lassen. Die elektronische Patientenakte kann in diesem Zusammenhang zukünftig eine Erleichterung sein.“

Häufig zeige sich aber ein Gesamtbild der Behandlungsabläufe erst aus der Kenntnis von Unterlagen, die über die Patientenakte hinausgehen. So habe die Justizministerkonferenz schon 2017 gefordert, dass durch eine Infektion geschädigte Patienten die Hygienepläne des Krankenhauses einsehen dürften. Bei berechtigten Interessen müsse das Einsichtsrecht ausgeweitet werden, beispielsweise auf Aufzeichnungen über den Nachweis der Funktionsprüfung von medizinischen Geräten oder die ordnungsgemäße Einweisung der Anwender. So werde die Rechtsposition der Betroffenen gestärkt.

Um Schadenersatzansprüche durchsetzen zu können, bedarf es nicht nur eines zahlungswilligen, sondern auch eines zahlungskräftigen Schuldners. Mit dem Gesundheitsversorgungs-Weiterentwicklungsgesetz hat der Gesetzgeber 2021 in einem ersten Schritt Vertragsärzte und -zahnärzte sowie Vertragspsychotherapeuten verpflichtet, sich gegen die sich aus ihrer Berufsausübung ergebenden Haftpflichtgefahren zu versichern. In einem zweiten Schritt ist es nach Angaben des Leiters des Referates Versorgungsqualität im AOK-Bundesverband, Claus Fahlenbrach, nun dringend geboten, die Verpflichtung zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung auf alle Behandelnden im Gesundheitswesen und auf Medizinproduktehersteller auszuweiten. Auch andere Berufsgruppen, beispielsweise aus der Pflege oder der Osteopathie, müssten demnach entsprechend versichert sein.

Mindestversicherungssumme anheben?

„Mit Blick auf die Schicksale vieler Betroffener ist es zudem wichtig, die Mindestversicherungssumme pro Versicherungsfall anzuheben“, so die AOK-Experten weiter. Diese sollte einen Betrag in Höhe von 7,5  Millionen Euro analog der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung nicht unterschreiten, um alle durch den Behandlungsfehler eingetretenen Schäden zumindest finanziell abzudecken.

Ähnlich dringenden Handlungsbedarf sehen die AOK-Experten in Fällen, in denen Patienten durch Arzneimittel geschädigt wurden. Hierbei gehe es unter anderem um Hersteller, die ihnen bekannte Risiken und Nebenwirkungen verschweigen oder nur lückenhaft in die Packungsbeilagen aufnehmen. Junghans: „Gerne würden die Kassen ihre Versicherten bei der Verfolgung entsprechender Schadenersatzansprüche unterstützen – können es aber nicht. Zum einen fehlt es an einer entsprechenden Rechtsgrundlage für eine Unterstützung durch die Kassen. Zum anderen bietet das Arzneimittelgesetz aktuell keine ausreichende Grundlage für Betroffene, um Schadenersatzansprüche durchzusetzen. Hier sollte der Gesetzgeber das Gewicht von den rein monetären Interessen der Pharmaindustrie entsprechenden Normen des Arzneimittelgesetzes hin zu einer echten Verbesserung der Rechtsposition der Geschädigten verschieben.“

In Deutschland müsse ein durch ein Arzneimittel geschädigter Patient den Beweis führen, dass kein anderer Umstand als die Einnahme des Arzneimittels für den eingetretenen Schaden ursächlich sein kann. Diese Regelung lasse außer Acht, dass die Entstehung von Gesundheitsschäden stets individuell und multifaktoriell bedingt ist und daher eine solche Beweisführung praktisch unmöglich sei. Bei einem inzwischen vom Markt genommenen Schmerzmittel beispielsweise habe der Hersteller bewusst das signifikant erhöhte Risiko für das Eintreten von Herzinfarkten bei bestimmten körperlichen beziehungsweise gesundheitlichen Konstitutionen verschwiegen. „In einem solchen Fall müssen Patienten, die das Arzneimittel im Vertrauen auf eine Besserung ihrer körperlichen Beschwerden eingenommen haben, beim Eintritt der Gesundheitsschädigung zumindest Schadenersatzansprüche durchsetzen können“, argumentiert Junghans.

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Auch Patienten, die durch fehlerhafte Hochrisiko-Medizinprodukte geschädigt wurden, müsse der Gesetzgeber durch eine entsprechende Rechtsgrundlage die Unterstützung ihrer Krankenkassen ermöglichen. „Aktuell werden Betroffene trotz der massiv zunehmenden Technisierung der Medizin schlicht allein gelassen“, sagt Fahlenbrach. „In der Konsequenz und möglicherweise die Unwissenheit der Betroffenen ausnutzend werden beispielsweise explantierte Medizinprodukte häufig entsorgt oder bei der Untersuchung durch den Hersteller zerstört. Damit wird dem Patienten eines der wichtigsten Beweismittel im Kampf um Schadenersatzansprüche entzogen, obwohl er der Eigentümer der ihm implantierten Produkte ist.“

Die Risiken Künstlicher Intelligenz

Auch der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im Rahmen von Diagnosestellung und Therapie birgt spezielle Risiken für Patienten. Risiken können sowohl auf den Hersteller als auch auf den Anwender zurückgehen. Zwar muss die Behandlung grundsätzlich nach dem aktuell geltenden, allgemein anerkannten fachlichen Standard erfolgen. Für den Einsatz von KI sind solche vergleichbaren Standards jedoch noch nicht entwickelt worden. Dennoch ist der Einsatz von KI ein Teil der den Behandelnden zustehenden freien Methodenwahl. Wichtig sei im Zusammenhang mit neu zu schaffenden gesetzlichen Regelungen, dass die Interessen der Patienten nicht hinter den rein finanziellen Interessen der Hersteller zurückstehen.

Von den 13.050 Verdachtsfällen auf Behandlungsfehler, die die Medizinischen Dienste im Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2021 prüfte, haben die Gutachter jeden vierten Fall als Behandlungsfehler mit Schaden bestätigt. Bei rund 21 Prozent war die Kausalität zwischen Fehler und Schaden aus medizinischer Sicht nachgewiesen.

„Wir gehen davon aus, dass diese Zahlen nur die Spitze des Eisbergs zeigen“, so Patientenanwalt Brocks. „Dass ein Arzt einen Fehler uns Anwälten gegenüber eingesteht, ist noch nicht vorgekommen. Den Patienten gegenüber allerdings schon. Das ist schon einmal ein erster Schritt. In solchen Situationen liegt es auch an uns Anwälten, diese Chance und Bereitschaft dieser Ärzte zur sachlichen Auseinandersetzung zu nutzen und uns nicht von den Emotionen der Patienten leiten zu lassen. Ich jedenfalls wünsche mir, dass eine gute Fehlerkultur weiter zunimmt und offener über Fehler gesprochen wird. Das erspart allen Beteiligten große Belastungen.“

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