Mit Bauchgefühl sicher durch den Tag

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FRANKFURT/MAIN. Die Medizin ist eine streng wissenschaftliche Disziplin, daher sind intuitive Entscheidungen bei der Behandlung eines Patienten tabu. "Falsch!", sagt Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Er appelliert an Ärzte, häufiger als gewohnt ihrem "Bauch" zu vertrauen.

Nicht nur Schwangere sollten auf ihr Bauchgefühl vertrauen: Intuition kann auch Ärzten manche Entscheidung erleichtern.

Nicht nur Schwangere sollten auf ihr Bauchgefühl vertrauen: Intuition kann auch Ärzten manche Entscheidung erleichtern.

© Foto: Imago

Von Pete Smith

"Warum es gute Gründe gibt, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen - Die Intelligenz des Unbewussten und die Bedeutung der Intuition in der Medizin" lautete der Titel jenes Vortrags, den der 1947 geborene Psychologe am Markus-Krankenhaus in Frankfurt am Main vor interessierten Ärzten hielt.

Gigerenzer führte seinen Zuhörern einige Beispiele vor Augen: Der Drogenfahnder am Flughafen, der aus Hunderttausenden von Passagieren den einen Drogenkurier herauspickt und der Keeper, der bei einem Schuss auf sein Tor in die richtige Ecke springt: Sie alle handeln intuitiv und sehen sich im Nachhinein meist bestätigt.

Intuition ist gefühltes Wissen

Dagegen liegen jene daneben, die nach einem Flugzeugabsturz mit vielen Todesopfern "intuitiv" aufs Auto umsteigen - aus Angst, sie könne dasselbe Schicksal ereilen. Denn Statistiken besagen, dass die Gefahr, bei einem Non-Stop-Flug von Europa in die USA ums Leben zu kommen, genauso groß ist, wie wenn man mit dem Auto eine Strecke von 20 Kilometern zurücklegt.

Wann also sind unsere intuitiven Entscheidungen besser als jene, die lang durchdacht sind? Weshalb ist es sinnvoll, dass auch Ärzte Bauchentscheidungen treffen, und welche Auswirkungen hat dies auf unser Gesundheitssystem?

Gigerenzer näherte sich den Antworten auf diese Fragen mit einer Definition: "Intuition ist gefühltes Wissen, das rasch im Bewusstsein auftaucht, dessen tiefere Gründe uns nicht bewusst sind und das stark genug ist, um danach zu handeln."

Spontane Urteile führen oft zum Erfolg

In unserer Gesellschaft werde Intuition normalerweise als zweitklassig betrachtet und dem rationalen Handeln untergeordnet, wobei, so Gigerenzer, in der Regel die Intuition den Frauen und das Denken den Männer zugeordnet werde. Dabei belegen etliche Beispiele, dass intuitives Handeln einem rationalen oftmals überlegen ist.

Mit Hilfe einer Studie, so Gigerenzer, habe man nachgewiesen, dass Handballer, die "aus dem Bauch heraus" handelten, erfolgreicher seien als jene, die sich mehr Zeit für ihre Entscheidungen ließen. Auch spontane Urteile in Gruppensitzungen versprächen den größeren Erfolg. "Beraumen Sie bei Teambesprechungen kurze Sitzungen an", forderte Gigerenzer seine Zuhörer auf. "Die besten Ideen kommen zuerst, die späteren sind zweitrangig."

Intuition kann in der Medizin sogar Kosten sparen, erläuterte Gigerenzer und berichtete über ein Beispiel aus den USA: Ein Patient wird mit starken Brustschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Notfallärzte halten einen Herzinfarkt für möglich. Soll der Patient auf die kardiologische Intensivstation oder in ein reguläres Krankenbett mit elektrokardiographischem Überwachungssystem?

In einer Klinik in Michigan entschieden sich die Ärzte in 90 Prozent aller Fälle für die kardiologische Intensivstation, zumeist aus Angst, verklagt zu werden. Die Folge: Die Intensivstation war ständig überfüllt, das Pflegeniveau sank, und die Kosten kletterten in die Höhe. Eine Forschungsgruppe der University of Michigan wurde beauftragt, Abhilfe zu schaffen. Schnell fanden die Wissenschaftler heraus, dass sich viele Entscheidungen ihrer Kollegen im Nachhinein als falsch erwiesen.

Ohne Taschenrechner und dafür mit mehr Gefühl

Sie entwickelten ein komplexes System mit 50 Auswahlkriterien und einer Formel, die es dem Arzt ermöglichen sollte, mit Hilfe eines Taschenrechners die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, wann ein Patient auf die Intensivstation gehört und wann nicht.

Obwohl viele Ärzte das System nicht verstanden, so Gigerenzer, zeigten sich Erfolge. War das Kalkül der Intuition überlegen? Nein, denn als man den Ärzten Tabelle und Taschenrechner abnahm, verschlechterten sich die Ergebnisse nicht. Was war passiert? Die Ärzte hatten sich wichtige Faktoren gemerkt und wandten diese an. Mit Hilfe von Gigerenzer wurde aus dieser Erkenntnis der effiziente Entscheidungsbaum entwickelt. Das vorherige, komplexe Entscheidungssystem wurde auf wenige Ja-Nein-Fragen zusammengestrichen. "Wir brauchen den Mut, zu unseren Bauchentscheidungen zu stehen", machte Gigerenzer am Ende seines Vortrags den Kollegen Mut. "Denn wir können nicht alles analytisch ableiten."

"Die Macht der Intuition"

Professor Gerd Gigerenzer hat seine Erkenntnisse zur Intuition gerade in einem Buch veröffentlicht: "Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition" ist im C. Bertelsmann-Verlag, München (ISBN 978-3-570-00937-6, 19,95 Euro), erschienen. Darin widmet sich der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin auch in mehreren Kapiteln dem Bereich der Medizin. Er gibt Tipps, wie die Intuition den Alltag von Ärzten erleichtern kann. Bei Teambesprechungen seien beispielsweise kurze Sitzungen besser. Gigerenzer: "Die besten Ideen kommen zuerst, die späteren sind zweitrangig."

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