Hintergrund

Charité-Ärzte fordern: Lasst Julia Timoschenko ausreisen

Inmitten der politischen Rankünen um die in Haft erkrankte ukrainische Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko behalten deutsche Ärzte das Wohl ihrer umstrittenen Patientin im Auge. Sie sprechen sich dafür aus, die prominente Gefangene in Berlin zu behandeln.

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Julia Timoschenko zeigt ihren malträtierten Bauch. Wodurch die Hämatome entstanden, ist unklar. Sie selbst spricht von Misshandlungen.

Julia Timoschenko zeigt ihren malträtierten Bauch. Wodurch die Hämatome entstanden, ist unklar. Sie selbst spricht von Misshandlungen.

© dpa

Von Anno Fricke

Die deutschen Ärzte von Julia Timoschenko machen sich Sorgen. Sie wollen in den nächsten Tagen zum dritten Mal in die Ukraine reisen, um ihre Patientin zu untersuchen. Ihre Gründe wiegen schwer.

Er habe Bilder der inhaftierten ukrainischen Oppositionspolitikerin zugestellt bekommen, auf denen Hämatome zu erkennen seien, sagte Charité-Chef Karl Max Einhäupl am 27. April in Berlin. Einhäupl und ein Team von Ärzten der Charité haben Timoschenko seit Februar mehrmals vor Ort in der Ukraine untersucht.

Die Bilder würden die von den ukrainischen Behörden dementierten Berichte stützen, nach denen Timoschenko nach eigenen Angaben am 20. April misshandelt worden sein könnte, als sie gegen ihren Willen aus dem Straflager in Charkow in ein eigens für die prominente Gefangene aufgerüstetes Krankenhaus der Stadt verlegt werden sollte.

Bildauschnitt mit Hämatomen an Julia Timoschenkos Bauch.

Bildauschnitt mit Hämatomen an Julia Timoschenkos Bauch.

© dpa

Hungerstreik seit einer Woche

Die 51-jährige frühere Ministerpräsidentin der Ukraine ist wegen Korruption zu sieben Jahren Haft verurteilt. Timoschenko hat die Vorwürfe stets bestritten. Weitere Prozesse gegen sie werden vorbereitet. Seit den Misshandlungen verweigert sie die Aufnahme von Nahrung.

Dies sei in ihrem Zustand gefährlich, berichtete Einhäupl. Der Hungerstreik lasse sie ihre Reserven schnell aufbrauchen. Dass sie seit Monaten Schmerzmittel einnehme, habe möglicherweise zu Vorschädigungen in Magen und Darm geführt. Weil sie viel liege, bestehe Thrombosegefahr.

Die Charité-Ärzte seien "von hoher politischer Stelle" in Deutschland aufgefordert worden, nicht zuzulassen, dass Timoschenko in Lebensgefahr gerate. "Retten Sie meine Mutter", hatte Timoschenkos Tochter Jewgenija am vergangenen Wochenende über die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" einen Appell an Kanzlerin Angela Merkel gerichtet.

Bandscheibenvorfall am 5. Oktober 2011

Timoschenko erlitt am 5. Oktober 2011 einen Bandscheibenvorfall, einen Monat später möglicherweise einen zweiten. In der Haft sei ein Bandscheibenvorfall "nicht adäquat behandelt worden", erklärte Einhäupl.

Bewusste Unterlassung oder diagnostische Unsicherheit? Darauf will sich Einhäupl nicht festlegen. Auf Wunsch der Familie Timoschenko hatten Ärzte der Charité sie zum ersten Mal am 13. Februar 2012 untersuchen können.

Vorwürfen, Timoschenko simuliere, trat Einhäupl entgegen. Sie habe bei der Schilderung ihrer Beschwerden exakt die Symptome beschrieben, die bei dem inzwischen auch in einem Kernspintomogramm nachgewiesenen Vorfall aufträten.

Ausstattung in Charkow entspricht weitgehend deutschem Standard

Die ukrainischen Behörden haben nach der Diagnose der Charité-Ärzte einen Trakt des Eisenbahnerkrankenhauses in Charkow für eine Behandlung ihrer prominenten Gefangenen umbauen lassen. Die Ausstattung mit Kernspintomografen, Ultraschallgeräten, einer monoplanaren Angiografieanlage sowie Geräten zur neurophysiologischen Elektrodiagnostik entsprächen weitgehend dem Standard deutscher Kliniken, berichtete Einhäupl.

Was fehle sei ein beheiztes Schwimmbecken zur Physiotherapie und ein Schlingentisch. Einhäupl und sein Kollege, der Orthopäde Professor Norbert Haas, hatten die Klinik am 13. April besucht und ein weiteres Manko festgestellt.

"Die gerade für multimodale Therapiekonzepte unverzichtbare Ausstattung mit interprofessionellen und langjährig erfahrenen Behandlerteams konnte nicht überzeugend dargelegt werden", sagte Haas, der an der Charité die Klinik für muskuloskeletale Chirurgie leitet.

Charité kann nicht Team für Monate nac Charkow schicken

Die ukrainischen Behörden sind nach den Berichten von Einhäupl und Haas daher bereit, Timoschenko von Mitarbeitern der Charité in Charkow behandeln zu lassen. Das ist aber wohl nicht die Lösung. Die Charité könne kein Team von Spezialisten für Monate nach Charkow entsenden, sagte Einhäupl. Besser sei es, die Patientin mit einer Sondergenehmigung nach Berlin zu holen.

Schwerer als Ausstattungs- und Qualifikationsmängel wiegt aber offenbar das Misstrauen Timoschenkos gegen die Ärzte in Charkow. Das rührt nicht nur aus der verzögerten Diagnose des Bandscheibenvorfalls.

Aus Angst vor einer Vergiftung oder absichtlichen Infektion verweigere die Patientin Blutabnahmen und Injektionen, habe Timoschenko den Charité-Ärzten anvertraut. Man habe die Gabe von Schmerzmitteln von ihrer Vernehmungsbereitschaft abhängig gemacht. Trotz häufiger Anfragen sei ihr ein Rollator verweigert worden.

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